Ein «schönes, saftiges Stück» -
Heinrich von Herzogenbergs Requiem op. 72

Heinrich von Herzogenberg (10.6.1843 Graz –
9.10.1900 Wiesbaden) war seit 1885 Professor für Komposition in
Berlin. Dem Freundeskreis um Johannes Brahms zuzurechnen, hatte er
die zeittypischen Gattungen der Kammermusik, des Kunst- und
Chorliedes reichlich mit Kompositionen bedacht, um sich dann auf
Anregung seines ebenfalls an der Berliner Hochschule tätigen
Freundes Philipp Spitta auch der geistlichen Chorsymphonik
zuzuwenden. Mit seinem op.60,
Psalm 94 für vier Soli, Doppelchor und
Orchester, vollendet 1887, erarbeitete er sich eine eigene
chorsymphonische Klangsprache, welche die Früchte langjähriger
Auseinandersetzung mit Bachs Kantaten und Passionen und mit weiteren
historischen „Vorbildern“ wie Händel und Mendelssohn in hoch
romantische Klanglichkeit integriert. Nach zweijähriger,
krankheitsbedingter Unterbrechung aller Kompositionstätigkeit folgte
im Jahr 1890 als nächster chorsymphonischer Schritt der
Königspsalm op.71,
ein Auftragswerk zur Feier des Kaisergeburtstages im Januar 1891,
wozu Herzogenberg als Mitglied der Akademie der Künste verpflichtet
war. Diesem Gelegenheitswerk schloss sich unmittelbar die
Komposition des Requiems op.72 an.
Am 16.12.1890 schrieb Gattin Elisabeth von Herzogenberg aus Berlin
an Johannes Brahms:
„.... Haben Sie Dank für die
Mitteilung des einliegenden Gedichts, das eine ergreifend schöne
Stimmung hat. Zum Dank würde ich gerne Heinrichs neuestes Stück
senden, das mir ausnehmend gelungen erscheint: ein lateinisches
Requiem für Chor und Orchester, gottlob ohne Soli. Aber es ist
nichts davon zu Hause, da er es im März in einem Konzert in
Leipzig aufführt. Ich bilde mir ein, Sie wären zufrieden mit dem
Stück, und ich brenne darauf, einmal Ihr Urteil zu hören.
Heinrich hat es diesen Winter gemacht, in unglaublich kurzer
Zeit, und das trug wohl dazu bei, daß es sehr aus einem Guß, und
überhaupt gegossen und fließend, sangfroh und chorgerecht
geworden (wenigstens so glauben wir).“
Einem Brief Elisabeths an die Frau des befreundeten Bildhauers Adolf
Hildebrand ist zu entnehmen, dass Herzogenberg dieses Requiem direkt
in die Partitur, also ohne die sonst übliche Vorstufe eines
Klavierauszug-Particells komponiert hat. Der von ihr konstatierte
„sangfrohe“ Fluss der Stimmen bestätigt sich in der Erarbeitung der
Chorpartie voll.
Im
Verzicht auf gegebenenfalls dramatische Solistenpartien beim
Requiem-Sujet schloss sich Herzogenberg Luigi Cherubini an, der 1816
ein solches Requiem, ebenfalls in c-Moll, vorgelegt hatte, welches
über das ganze 19.Jahrhundert als Requiem-Klassiker galt.
Die Uraufführung des Werkes am 22.2.1891 in der Leipziger
Thomaskirche, wo Herzogenberg während seiner Leipziger Zeit
(1872-1885) als Dirigent des Bach-Vereins (seit 1876) zahlreiche
Bach-Aufführungen geleitet hatte, war ein Benefizkonzert zugunsten
der Sozialkasse des Leipziger Musiklehrervereins mit Werken
ausschließlich Herzogenbergs. Nach dem Requiem erklangen noch die
ersten beiden Choralvorspiele aus op.67 und der oben genannte
Königspsalm op.71. Der (Riesen-)Chor wurde gebildet aus dem
Bachverein, aus Mitgliedern des Gewandhauschores, der Singakademie,
der Chorgesangsklasse des königl. Conservatoriums, des
Musiklehrervereins und deren Schüler, Schülerinnen und Freunde.
Unter Leitung des Komponisten spielte das Gewandhausorchester.
Berliner Freunde und Kollegen von der Musikhochschule waren
angereist und Philipp Spitta schrieb daraufhin seinen
bemerkenswerten Aufsatz „Musikalische Seelenmessen“ über die
zeitgenössische Requiem-Produktion und speziell dieses Werk
(veröffentlicht auch in Spittas Aufsatzsammlung
Zur Musik, 1892), zugleich eine erste Würdigung des
Komponisten in der Fachwelt.
Elisabeth von Herzogenberg, eine
musikalisch hoch gebildete Frau, war von diesem Requiem über die
Maßen begeistert, konnte an der Uraufführung aber nicht teilnehmen.
Ihre Herzkrankheit erforderte eine Kur in Wildbad (Schwarzwald). Von
dort gab sie ihrem Mann rührende Ratschläge:
„Noch hoff‘ ich auf den 22., denn
dieses Requiem ist von meinem Heini u. ich hab ein Recht darauf.
Und es ist ein schönes Stück! Verlaß dich drauf! Verlier nur
keine Zeit mit leichten Stellen, aber Hostias u. Agnus Dei das
büffle.“
Herzogenberg, seit einer Knieoperation 1888 behindert, gab auf einer
Postkarte Rückmeldung von der ersten Probe:
„Von ½ 10 Uhr bis 1 Uhr mit 31/2
Extremitäten gearbeitet. Wie schön das Stück ist, kann ich Dir
gar nicht sagen; alles viel schöner und wärmer als ich dachte.
Manche Momente habe ich gar nicht selber gemacht, sondern hörte
bloß zu mit offenem Munde, so das Ende des „Dies“, das ganze
6/8-As-dur und vieles Überraschende.“
Darauf wiederum die Reaktion Elisabeths:
„Mein H, D. liebes Kärtlein über
Probe u. Dein schönes saftiges Stück hat mich hoch beglückt!
...“
Eine Zweitaufführung des Werkes am 12.Mai in Leipzig als
Bachvereinskonzert konnte Elisabeth dann miterleben. Es sollte in
gewissem Sinne auch ihr eigenes Requiem werden, denn am 7.Januar
1892 erlag sie ihrem Herzleiden. - Zu ihrem ersten Todestag
komponierte Herzogenberg als seinen nächsten Beitrag zur
Chorsymphonik die Todtenfeier op.80
über (deutsche) Bibelworte und Choräle, die bei der Bestattung
gesprochen, bzw. gesungen worden sein sollen.
Das Requiem wurde laut Eintragungen im originalen Stimmenmaterial
noch 1894 in Hamburg und am Totensonntag desselben Jahres an
prominenter Stelle durch die Berliner Singakademie aufgeführt.
Ansonsten ist lediglich eine Aufführung im Jahre 1938 durch den
Volkschor Basel belegt.
Das nicht gedruckte Aufführungsmaterial (Partitur und Stimmen), nach
1918 vom Peters-Verlag übernommen, galt jahrzehntelang als
verschollen. Nachdem infolge der politischen Wende in Deutschland
der Frankfurter Peters-Verlag sein Leipziger Stammhaus in den
1990er-Jahren wieder übernommen hatte, wurden auch die Materialien
zu den chorsymphonischen Werken Herzogenbergs aufgefunden, darunter
die des Requiem, der Vorgängerwerke und auch der Folgewerke (Messe
op.87 und Kirchenoratorium Erntefeier
op.104). Die hier vorgelegte Neuausgabe wurde auf der Basis dieses
Materials erstellt, das mit Ausnahme der autographen Orgelstimme und
der colla-parte-Ergänzungen zu a-capella-Partien Verlagsabschriften
darstellt – der Nachlass Herzogenbergs mit den meisten Autographen
seiner Werke ist seit 1945 verschollen.
Die Wieder-Erstaufführung des Requiems besorgte am 2.Februar 2003
der Akademische Chor der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen
unter Leitung von Konrad Klek. Auf dem Programm standen außerdem
Beethovens 5.Sinfonie in c-Moll und Herzogenbergs Begräbnisgesang
op.88 für Tenor, Männerchor und Bläser.
Zu
den Sätzen im Einzelnen
Introitus:
Eine ausgiebige Orchestereinleitung in durchaus Wagner‘schem Duktus,
geprägt von Tragik-Punktierungen und dem Schmerzmotto der kleinen
Sexte, eröffnet das Werk. Der Choreinsatz – a cappella gesetzt als
Botschaft aus einer anderen Welt - bringt dagegen reines,
akzentfreies C-Dur: „requiem aeternam“ beim Wort genommen! Ein
ruhiger Chorfluss ergießt sich zu „lux perpetua“. Auch der
Mittelteil „Te decet hymnus“ bleibt in jenseitiger Ruhe, akzentuiert
allerdings das Leitbild (himmlisches) Jerusalem, die
Orchester-Zwischenspiele rekurrieren jeweils auf die Anfangs-Tragik.
Bei der Reprise des „requiem aeternam“ kommt durch Stimmvertauschung
zusätzliches Licht herein (Soprane in Oktavlage). In den Schlusston
der Chorpassage hinein beginnt sich abermals das Orchester
aufzubäumen mit der Tragik des Vorspiels. Zum Des-Dur-Höhepunkt
(neapolitanischer Sextakkord) schreit der Chor förmlich im Unisono:
„Kyrie eleison - Chiste eleison“ ... Den Schlussklang des
Orchesters aber bildet eine Fermate auf der (tiefen)
Dur-Terz g-e, der Dreiklang der
Grundtonart c–Moll scheint gezielt vermieden.
Sequenz:
Während das „Dies irae“ häufig mit Gerichtsdonner die Hörer
erschaudern lässt, beginnt Herzogenberg verhalten, sozusagen mit
langsamer Einleitung eines in sich stringent angelegten, großen
symphonischen Satzes. Die Vorstellung des de facto (noch) fernen
Jüngsten Gerichtes („dies illa“) wird gleichsam erst
evoziert. In direktem Anschluss an die in knappe, gereimte Strophen
gefasste Textvorlage gestaltet er nun eine Art Strophenform mit
vielen formalen Entsprechungen, welche beim Hörer den Eindruck der
Einheitlichkeit wie der Eindringlichkeit (nicht: Aufdringlichkeit!)
hinterlässt. „Rex tremendae“ mit von Mozarts Requiem her bekannten
Punktierungen eröffnet den (im Briefzitat oben genannten)
langsameren As-Dur-Mittelteil im pastoralen (!) 6/8-Takt, welcher
als solcher das Wohl der von Gott erbetenen Gnade repräsentiert. Die
Bittstrophen singt – als Solistenersatz - jeweils eine Chorstimme
allein, ehe die anderen als Tutti respondieren. Nur bei „Confutatis
maledictis“ im letzten Satzviertel wird es sozusagen richtig
dramatisch. In die fast wörtliche Reprise der langsamen Einleitung
sind dann kunstreich die drei Schlussstrophen der Sequenz eingebaut.
Diese Technik des Choreinbaus unterschiedlicher Textpassagen in
einen vorgegebenen Instrumentalsatz hat Herzogenberg sicher bei
seinem Leipziger (Lehr-)Meister J.S. Bach gelernt. Spätestens der
vom Komponisten selbst als ergreifend empfundene Schluss des „Dies
irae“ lässt auf die Rolle der Pauke achten, welche auch in anderen
Werken äußerst prononciert eingesetzt wird.
Offertorium:
Nach den beiden instrumental-symphonisch konzipierten Anfangssätzen
beginnt das Offertorium nun mit einem feierlichen Chorfugato in
Es-Dur, das Wort „rex“ jeweils akzentuierend. So ist die Anrufung
Jesu Christi als (eigentlichem) König in genuine Form gebracht. Die
Bitten werden wieder von Einzelstimmen mit tonmalerischer
Orchesterbegleitung vorgetragen, nach der düsteren Replik auf die
drohenden Fegfeuer-Qualen wirkt die Entrückung in engelhaftes C-Dur
(!) beim Rekurs auf den Erzengel Michael geradezu betörend. „Quam
olim Abrahae“ nimmt das Anfangs-Fugato auf, klanglich gemildert
durch idyllisierende Streicherumspielungen. Der Mittelteil „Hostias“
ist eine meisterhafte, sechs-stimmige a-cappella-Motette im alten (Palaestrina-)Stil
– aufführungspraktisch (Intonation!) ein gewisses Risiko, aber als
a-cappella-Effekt im Dienste rein seelisch-innerlicher Gebetshaltung
eben Herz-bewegend. – Wohl schon für die Uraufführung schrieb
Herzogenberg colla-parte-Stimmen für die Streicher aus, welche hier
als Kleinstich im Aufführungsmaterial wiedergegebenen sind, auch
mittels der autographen Orgelstimme ist die Stützung des Chores (ad
lib.) möglich. - Die Wiederholung des „Quam olim Abrahae“ bringt
dann entgegen der Konvention keine musikalische Reprise, sondern
eine überzeugend bündelnde f- bis ff- Schlusspassage: was Abraham
versprochen wurde, ist versprochen!
Sanctus:
Langsamer 12/8-Takt – reinstes C-Dur. Der himmlische Lobgesang kennt
keine Eintrübung der Herrlichkeit Gottes durch Vorzeichen! (Vgl. das
C-Dur-Sanctus in der Messe op.87.) Man hört deutlich das große
Sanctus von Bachs h-Moll-Messe als Vorbild durch. Das Hosanna bringt
eine Steigerung als gemäßigtes Allegro. Da es keine Solisten gibt,
die sich sonst beim Benedictus entfalten, ist dies sehr knapp
gehalten mit betörenden p-Entrückungen in terzverwandte Tonarten.
Die Reprise des Hosanna führt in ein ausladendes Schlussritardando.
Agnus
Dei: Mit demselben C, welches das Sanctus massiv eingemeißelt
hat, beginnt das Agnus Dei, zaghaft gezupft nur, dann in die
Andeutung eines apart instrumentierten Trauermarsches (f-Moll)
mündend. Ehe dieser die Herzen beklemmen könnte, tritt die wiederum
a-cappella vorgetragene Bitte des Chores „Dona eis requiem“
dazwischen – in C-Dur und As-Dur mündend. Das dritte Bitten mündet „sempiternam“-gemäß
in eine Ewigkeit andeutende, noch nicht vollständig durchgeführte
F-Orgelpunkt-Passage. Erst muss noch „Lux aeterna“ der Communio
vollmächtig hereinbrechen und die notorische Schlussfuge „cum
sanctis tuis“ zumindest anheben, ehe ewige (Orgelpunkt)-Ruhe auf F
(wie „Friede“) einkehren darf. Die Orchester-Reminiszens an den
allersten Anfang holt in die (tragische) Wirklichkeit zurück, aber
die Botschaft der verheißenen „requies aeterna“ ist nun beglaubigt,
wird gelassen wiederholt und mündet in den nun auch vom Chor selbst
gesungenen C-Dur-Schlussklang. Allerdings hat Herzogenberg hier eine
kleine Texterweiterung angebracht: „Requiescant in pace“ singen die
Chorstimmen pp vor dem „Amen“. Wohl sagt dies der Priester beim
Requiem unmittelbar vor dem Segen, es gehört aber nicht zum
klassischen Requiemtext. Jedoch steht es stereotyp auf Grabsteinen
und am Ende von Nachrufen auf verdiente Bürger ...
Freund Brahms verweigerte dem Komponisten eine Rückmeldung auf
dieses ihm (im gedruckten Klavierauszug) alsbald zugesandte Werk.
Clara Schumann gegenüber schrieb er despektierlich von einem
„trostlosen Stück“.
Die Erlanger Erfahrungen bei Erarbeitung und Aufführungen dieses
Requiems waren allerdings dergestalt, dass man betonen kann: „Und
Elisabeth hatte doch Recht!“
Konrad Klek
Der volle lateinische Wortlaut des Requiems
mit der Übersetzung ins Deutsche (PDF-Datei 14 KB)
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