Herzogenberg und Heiden
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Heinrich von Herzogenberg und die 'Erntefeier' op.104

      Als Heinrich von Herzogenberg am 9. Oktober 1900 57-jährig seinem langjährigen Leiden (Polyarthritis) erlag, rechneten die Freunde damit, dass gerade sein opus maximum und ultimum, das Oratorium Erntefeier, seinen Ruhm als Komponist wirklich großer Musik weitertragen werde, wie er es selbst ebenfalls eingeschätzt hatte. Die Erntefeier, laut autographem Vermerk im Partitur-Manuskript am 2. Juli 1898 im Heidener Sommerhaus abgeschlossen, war nach einer Voraufführung des dritten Teils im Dezember 1898 in Berlin am 10. Juli 1899 in Straßburg als Gesamtwerk uraufgeführt worden - musikalischer Höhepunkt des dort abgehaltenen 15. Deutschen Evangelischen Kirchengesangsvereinstages. So wurde der versammelten gesamtdeutschen Prominenz der damaligen Kirchenmusik-Szene vorgeführt, was in Sachen Evangelischer Kirchenmusik am Ende des 19. Jahrhunderts geistlich und künstlerisch möglich ist. Der für den Ablauf des gesamten Festes verantwortliche Straßburger Theologieprofessor Friedrich Spitta hatte die Textzusammenstellung besorgt, sang (als begnadeter Laiensänger) die Tenorpartie, der von ihm geführte Akademische Kirchenchor sang zusammen mit dem Wilhelmer-Chor unter Leitung von Ernst Münch, dem großen Straßburger Dirigenten, der u.a. durch seine Bachkantaten-Konzerte zusammen mit Albert Schweitzer bekannt geworden war. Herzogenberg, der bald nach Vollendung der Erntefeier wieder mit einem Rheumaschub zu kämpfen hatte, war im Rollstuhl von Wiesbaden aus nach Straßburg gekommen, wo er sich zu Kuren aufhielt (und im Folgejahr auch starb).
      Friedrich Spitta und Heinrich von Herzogenberg - das ist ein bemerkenswertes, leider nur sieben Jahre währendes Kapitel gelingender und höchst produktiver Zusammenarbeit zwischen einem Theologen und einem Komponisten. Bei einem Sommeraufenthalt 1893 in Heiden (oberhalb Rohrschach/Schweiz), wo Herzogenberg sich ein Sommerhaus mit Blick auf den Bodensee gebaut hatte, konnte Spitta den Berliner Hochschulprofessor zunächst für die Komposition von Motettenzyklen für je einen Gottesdienst gewinnen ("Liturgische Gesänge"). Im folgenden Jahr wurde die Konzeption "Kirchenoratorium" ausgeheckt: abendfüllende Werke mit sinnvoller Textkomposition aus Bibelworten und Chorälen, für einfache Verhältnisse komponiert mit Einbeziehung von Gemeindegesang. Als erstes entstand in wenigen Wochen ab Mitte August 1894 das Weihnachtsoratorium "Die Geburt Christi". Herzogenberg hatte Spitta neben dem Harmonium als "Continuo"-Instrument eine einfache Streicherbesetzung und Oboe abringen können. Dieses zahlreiche volkstümliche Weihnachtslieder integrierende Werk wurde um die letzte Jahrhundertwende ein "Hit" und wird auch seit der Neuausgabe im Stutgarter Carus-Verlag 1987 wieder vielfach aufgeführt. Als nächstes erstellte Spitta die Textvorlage für ein Passionsoratorium, ebenfalls nur mit Streichorchester und Harmonium, das Herzogenberg über längere Zeit in Anspruch nahm und 1896 fertiggestellt wurde. Als drittes wünschte sich Herzogenberg ein Osteroratorium oder ein Reformations- bzw. Lutheroratorium. Beides versagte ihm Spitta aus verschiedenen Gründen. Stattdessen lieferte er ihm die Vorlage zur "Erntefeier", um mit Erntedank ein Fest zu bereichern, das bisher überhaupt nicht kirchenmusikalisch kultiviert worden war. Der Komponist bat darum, einmal ohne Beschränkung der musikalischen Mittel komponieren zu dürfen und konnte so das volle Sinfonieorchester zum Einsatz bringen. Gegenüber der Passion ist das Gewicht der groß angelegten Chöre noch einmal gesteigert, so dass die ursprüngliche Zweckbestimmung des Kirchenoratoriums ("Musik für einfache Verhältnisse") definitiv preisgegeben ist.
 
      Heinrich von Herzogenberg, geboren 1843 als Nachfahre ehemals französischer Adliger in Graz, hatte sich vor dem Zusammentreffen mit Friedrich Spitta als Komponist von Kammermusik und (weltlicher) Gesangsliteratur einen Namen gemacht. Er gehörte zusammen mit seiner Frau zum engsten Freundeskreis um Johannes Brahms, lebte seit 1872 in Leipzig, wo er u.a. als Leiter des Leipziger Bachvereins viele Bachkantaten zur Aufführung brachte, und war schließlich seit 1885 Kompositionsprofessor in Berlin, wohin ihn sein Freund Phillipp Spitta, der bekannte Bach-Biograph (und Bruder von Friedrich Spitta) vermittelt hatte. Einige chorsinfonische Werke (Psalm 94, Königspsalm, Requiem, Weihe der Nacht) hatten bereits seine großen Fähigkeiten auf dem Gebiet der groß besetzten Chormusik belegt. Den frühen Tod seiner Gattin Elisabeth im Januar 1892 und den Verlust des Freundes Philipp Spitta im April 1894 verarbeitete er jeweils mit einem großen Chorwerk, der "Todtenfeier" op.80 und der Messe e-moll op.87. Beide Werke sind ein Wurf.
      Die seinerzeit bei allen groß besetzten Werken nicht gedruckten Partituren und Orchesterstimmen galten seit 1945 als Verschollen. Erst beim Ausräumen des ehemaligen Leipziger Peters-Verlagshauses nach der Wende (zum Zwecke der "Abwicklung") wurde die Herzogenberg-Kiste wieder gefunden. Nach Erstaufführungen der e-moll-Messe im März 1997 (Mainzer Bachchor, auch CD-Aufnahme bei cpo ) und der "Todtenfeier" im November 1997 (Nürtinger Kantorei) ist diese Erstaufführung der Erntefeier nun die dritte Neubegegnung mit einem ganz großen Werk der lange unterschätzten Oratorienliteratur des 19. Jahrhunderts. Nach der Straßburger Uraufführung und einem internen Herzogenberg-Gedenkkonzert der Berliner Musikhochschule 1901 hatte lediglich der Herzogenberg-Enthusiast Karl Greulich in Posen (Schlesien), im Hauptberuf Pfarrer, das Werk noch dreimal zur Aufführung gebracht. 1913 veröffentlichte er ein höchst engagiertes Plädoyer "Wo bleibt Herzogenbergs Erntefeier" - Mit den politischen Ereignissen ab 1914 und den kulturellen Umbrüchen nach 1918 war ein solches opus maximum "out" - wie vieles durchaus respektables, was das 19. Jahrhundert auch sonst an kirchlicher Kultur hervorgebracht hatte. Vielleicht folgt die Wiederentdeckung jetzt nach 100 Jahren einem allgemeinen kulturgeschichtlichen Gesetz: Auch Bachs Matthäus-Passion musste 100 Jahre warten, ehe sie 1829 von Mendelssohn wieder ins musikalische Leben zurückgeholt wurde.
 
      Die Erntefeier hat eine theologisch sehr durchdachte Konzeption. Wie bei den anderen Kirchenoratorien benutzt Spitta als Textvorlage ausschließlich Bibelworte und Choralstrophen. Das Werk gliedert sich in Einleitung und drei Teile und bildet darin durchaus so etwas wie einen kirchlichen Anti-(Richard Wagner-)Ring. Spitta schreibt: "Bei längerer Beschäftigung mit dem [Erntedank-]Stoffe ergab sich mir, dass ihm eine das ganze Leben umspannende Bedeutung gegeben werden könne: Lebensfreude und Arbeit, Not und Sorge des Lebens, überwunden durch den Blick auf die in Christus gebotenen idealen Güter, der Ertrag des Lebens an dessen Ende und der Blick in die zukünftige Vollendung." So wird - in der Theologiegeschichte einzigartig - ein großer Bogen gespannt vom konkreten Erntedank bis zur "Ernte des Lebens" im ewigen Leben, eine bemerkenswerte Zusammenschau von Erntedankfest und Ewigkeits-/Totensonntag.
 
      Die Einleitung widmet sich der Erntedank-Motivik im engeren Sinne. Das Orchestervorspiel ist eine Choralbearbeitung zu "Nun danket alle Gott". Das Anfangsmotiv des Liedes durchzieht auch alle folgenden Sätze, das abschließende Segens-Arioso ist eine wunderbare Paraphrase dieses so elementaren und (bis heute) beliebten Dankliedes.
 
      Der erste Teil über das Lebensalter der Jugend wird heute am ehesten Verständnisschwierigkeiten bereiten. Chöre von "Jungfrauen" und "Jünglingen" artikulieren unbekümmerten Lebensgenuss, mit Alt. und Bass-Soli treten zwei "Alte" auf und geben mahnend ihre Lebenserfahrungen weiter. Die Ermahnung wird ernstgenommen, und so bitte die Jugend "Lehret uns heilsame Sitten und Erkenntnis". Obgleich sich das alles mit (virtuos zusammengestellten) Bibelworten gestalten lässt, wirkt es heute vielleicht etwas arg moralisch. Die Fragestellung gleichwohl ist alles andere als überholt: Der erste Chor kann als treffende Charakterisierung der modernen "Spaßgesellschaft" und die Jugend verherrlichenden Leiblichkeitskultur gehört werden. Und die musikalisch faszinierende Form der Rede der Alten - strenger Kanon in der Umkehrung - wird den Inhalt doch ernster nehmen lassen (wie wir es auch bei Bachkantaten mit nur auf den ersten Blick abwegigem Text erleben). Das E-Dur-Schwelgen vom "züchtigen Weib" schließlich verliert seine Kitschigkeit, wenn man die Tonart- und Motivparallelen erkennt zu anderen Werken, in denen Herzogenberg explizit dem Gedächtnis seiner verstorbenen Frau huldigt, "eine mit allen Gaben und Talenten wunderbar reich ausgestattete Frau" (F. Spitta).
 
      Der zweite Teil widmet sich mit unmittelbar sprechender Musik dem "Ernst des Lebens". Den historischen Hintergrund bildet die um 1900 intensiv gestellte "soziale Frage". Heute kann man es hören als kritischen Beitrag zur Arbeitslosenproblematik und zum eklatanten Wohlstandsgefälle in unserer Gesellschaft. Der "reiche Kornbauer", musikalisch schamlos offen charakterisiert mit Trompeten-Protzerei, erscheint als Negativbild eines rein egoistischen Materialisten, die Sopranstimme hält mahnende Bibelworte dagegen, eine Art Revolutionschor droht den "Reichen (mit Bibelworten!) das "Verfaulen" ihrer Güter an. Die Lösung ist - wie Spitta erklärt - folgendermaßen gestaltet: "Christus (Tenor) tritt auf. In einem herzandringenden Arioso mit Begleitung der Solo-Violine klopft er an die Türe der Hartherzigen und enthüllt ihnen ihre geistige Armut. Dann wendet er sich mit dem Ausdruck überquellender Liebe an die Mühseligen und Beladenen und ruft sie zu sich." Die Liebe Jesu Erfahrenden akklamieren mit Choralstrophe und Psalmversen, darunter der beliebte Psalm 23 "Der Herr ist mein Hirt". - Es gibt tatsächlich sonst kaum ein geistliches Chorwerk, das konkret die soziale Verantwortung des Lebens thematisiert.
 
      Der dritte Teil beginnt als Gegenpol zum ersten Teil mit einem Chor der Alten, ein ergreifend gestalteter b-moll-Trauermarsch: "Alles vergängliche Ding muss ein Ende haben." Wieder tritt Christus dazwischen und eröffnet die ganz andere Dimension des neuen (ewigen) Lebens, musikalisch symbolisiert in der tonartlichen Umpolung nach dis-moll (statt fünf b stehen jetzt fünf Kreuze). Ein groß angelegter Chor unterstreicht dies, ehe weitere Christusworte die Hauptaussagen des Werkes markieren. Mit "Vor dir wird man sich freuen, wie man sich freuet in der Ernte" beginnt der grandiose Schlussreigen von Soli und Chor, der sich immer höher "schraubt" bis zu ekstatischen Jubel. Dieser mündet - vorbereitet durch das Melodie-Anfangsmotiv bereits in Chor und Orchester - nahtlos ein in den Schlusschoral "Gloria sei dir gesungen".
      Im 20. Jahrhundert ist diese Liedstrophe Philipp Nicolai s von 1599 zum Inbegriff der Verbindung von ewiger und irdischer Glaubensfreude geworden. Das neue Gesangbuch von 1993 gibt ihr im Bach-Satz die Würde des Schlusssteines (Nr. 535). So ist die Erntefeier mit diesem Schlusschoral durchaus "up to date". Und der Psalmvers der Schlussfuge "Denn bei dir ist die lebendige Quelle, und in deinem Licht sehen wir das Licht" - der auch auf Herzogenbergs (erhaltenem) Grabstein auf dem Wiesbadener Friedhof eingemeißelt wurde - ist das zentrale Bibelwort, von dem aus der weltweit rezipierte Theologe Jürgen Moltmann heute, im 21. Jahrhundert, die drängenden Fragen der christlichen Weltverantwortung angehen will.

Prof. Dr. Konrad Klek
(aus dem Programmheft der Bielefelder Aufführung der "Erntefeier" am 5.11.2000)



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