Herzogenberg und Heiden
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Samstag, 3. April 2004, 15.30 Uhr, Kursaal Heiden
107. Todestag von Johannes Brahms

 

 Ernste und Elegische Gesänge
 

Herzogenberg und Brahms im Dialog

 

Der Briefwechsel und Liederaustausch zweier einsamer Herzen in den Jahren 1895/96

 

 mit

Markus Oberholzer, Bariton
 

Roland Degoumois, Klavier
 

Konrad Klek, Wortbeiträge

 

 

 

 

Heinrich von Herzogenberg             aus den Elegischen Gesängen op. 91 und op. 105:

 

Sonett                                                  komponiert in Heiden am 16.8.1893            op. 105, 1

Wenn zwei geschieden sind von Herz und Munde,

da ziehn Gedanken über Berg` und Schlüfte,

wie Tauben säuselnd durch die blauen Lüfte,

und tragen hin und wieder süße Kunde.

 

Ich schweif` umsonst so weit der Erde Runde;

und stieg` ich hoch auch über alle Klüfte,

dein Haus ist höher noch als diese Lüfte,

da reicht kein Laut hin, noch zurück zum Grunde.

 

Ja, seit du todt, mit seinen blüh`nden Borden wich ringsumher das Leben mir zurücke,

ein weites Meer, wo keine Bahn zu finden.

Doch ist dein Bild zum Sterne mir geworden, der nach der Heimat weist mit stillem Blicke,

dass fromm der Schiffer streite mit den Winden.

 

 

Treue                                                   komponiert in Heiden am 17.8. 1893        op. 91, 2          

Wie dem Wanderer in Träumen,

dass er still im Schlafe weint,

zwischen goldnen Wolkensäumen

seine Heimat wohl erscheint:

So durch dieses Frühlings Blühen

Über Berg und Täler tief

Sah ich oft dein Bild noch ziehen,

als ob`s mich von hinnen rief.

Und mit wunderbaren Wellen

wie im Träume unbewusst

gehen ew`ge Liederquellen

mir verwirrend durch die Brust.

 

 

Am Strom                                            op. 91, 4

Der Fluss glitt einsam hin und rauschte

wie sonst noch immer, immerfort,

ich stand am Strand gelehnt und lauschte,

ach, was ich liebt` war lange, lange fort!

Kein Laut, kein Windeshauch, kein Singen

ging durch den weiten Mittag schwül,

verträumt die stillen Weiden hingen

hinab bis in die Wellen kühl.

Die waren alle wie Sirenen

mit feuchtem, langem, grünem Haar,

und von der alten Zeit voll Sehnen

sie sangen leis` und wunderbar.

Sing`, Weide, singe, grüne Weide!

Wie Stimmen aus der Liebsten Grab

zieht mich dein heimlich Lied voll Leide

zum Strom von Wehmut mit hinab.

                                                Am Strom  op. 91, 4

 

 

 

„Vom lieblichen Eichendorff zu heidnischer Musik –

wie Brahms und Herzogenberg einander sticheln und sich nicht – oder doch? - verstehen.“

 

 

Verehrte Zuhörer,

 

die beiden zuletzt vorgetragenen Lieder gehörten zu einer Postsendung mit neuen Notendrucken, die Johannes Brahms im Sommer 1895 von seinem Freund Heinrich von Herzogenberg aus Heiden erhielt. Herzogenberg war Anfang Juni in Berlin aufgebrochen,  wurde dann aber sieben Wochen lang durch eine Augenentzündung in seiner Heimatstadt Graz festgenagelt und kam so erst Ende Juli nach Heiden, wo er sonst gerne ab seinem Geburtstag am 10.Juni weilte. In Heiden schnürte er gleich das Paket an Brahms und schickte ihm die jüngsten Neuerscheinungen aus eigener Feder, das im Sommer zuvor in Heiden entstandene Weihnachtsoratorium „Die Geburt Christi“ op. 90 und die Elegischen Gesänge op.91, sechs Lieder auf Eichendorff-Texte, die wahrscheinlich alle zwei Jahre zuvor, im Heidener Sommer 1893 im Abendroth komponiert worden waren.

 

Die Reaktion von Brahms auf diese Sendung ist der erste in Ihrem Programm wiedergegebene Brief . Der gesamte Briefwechsel zwischen Brahms und dem Ehepaar Herzogenberg füllt zwei Buchbände und kann ich hier nicht thematisieret werden. Das wäre auch eine sehr komplizierte Angelegenheit mit vielen wohl nur psychologisch zu erfassenden Problemstellen. Bei den meist knappen Schreiben von Brahms ist jedenfalls stets das, was er nicht sagt oder nur andeutet, mindestens so entscheidend wie das, was er faktisch ausspricht. So erlaube ich mir heute eine kommentierende, deutende Lektüre seiner letzten Briefe an Herzogenberg, die alle nach Heiden gingen. Der Brief vom 8. August 1895 aus Ischl, wo Brahms wie immer in seinen letzten Lebensjahren den Sommer verbrachte, ist erstaunlich herzlich gehalten und gibt ungewöhnlich direkt die Empfindungen wieder, welche Brahms beim Empfang des Notenpakets aus Heiden hatte.

 

Lieber Freund,

Ihre Sendung habe ich diesmal mit besonderer Freude in die Hand genommen.

Dass Brahms von Herzogenberg dessen Neuerscheinungen erhält, war für ihn also offenbar ein gewohnter Freundschaftsbeweis. „Diesmal“ war er sogar freudig überrascht. – Ich stelle mir Herzogenberg bei der Lektüre des Briefes vor. „Besondere Freude“ liest er und traut seinen Augen nicht, hat Brahms doch sonst wenig oder gar nichts zu seinen Kompositionen gesagt. Doch auf den Inhalt der Sendung bezog sich Brahms` Freude zunächst gar nicht:

Vor allem, weil ich von Engelmann (Theodor Wilhelm Engelmann, ein guter gemeinsamer Freund, Physiologe in Utrecht) gehört hatte, Sie seien augenleidend in Graz! Nun kommt mir der Gruß aber aus Ihrem Heim und mit Ihrer freundlichen Handschrift – so darf ich wohl beruhigt sein.

 

Da schreibt Brahms also ganz direkt, wie es ihm erging, als er die Post aufmachte: Die kommt ja aus Heiden, liest er auf dem Poststempel, also wird der Herzogenberg wieder gesund sein. - Die im Wortsinn sympathische Anteilnahme am gesundheitlichen Ergehen der anderen war ein wesentlicher Zug der Freundschaften im Brahmskreis. Das war kein Zirkel mit abgehoben nur der Kunst frönenden Geistern, das waren schon Beziehungen von Mensch zu Mensch. – Dann macht Brahms das Paket auf, holt die Noten raus, setzt sich hin und fängt an zu blättern und zu lesen:

Hernach aber freute ich mich wieder, daß Sie, trotz so sehr ernsten Lebens und Strebens den lieblichen Eichendorff nicht vergessen – wohl unser aller jugendliche Schwärmerei.

Im Paket lagen mit op.90 und op.91 zwei sehr unterschiedliche Sachen, das erste Kirchenoratorium Herzogenbergs und ein Liederzyklus. Brahms nimmt auf den wesentlich dickeren Band mit dem Kirchenoratorium nur andeutungsweise Bezug mit der vordergründig anerkennenden Formulierung vom „so ernsten Leben und Streben“, explizit lobt er die Lieder, den „lieblichen Eichendorff“. Bei beidem enthalten seine Formulierungen ein Moment der Distanzierung: Mit dem Kirchenoratorium sieht er Herzogenberg gleichsam aus der freien Fülle des Künstlerlebens herausgetreten, zum (nur noch) ernsten Menschen mutiert, der meint, für sein Seelenheil fortan Kirchenmusik komponieren zu müssen, eine Einstellung, die Brahms völlig fremd ist. Auf diesem Hintergrund wirkt das Lob dafür, dass Herzogenberg trotz der Kirchenmusik-Priorität den „lieblichen Eichendorff nicht vergessen“ habe, fast schon ironisch. Auch die Taxierung „unser aller jugendliche Schwärmerei“ signalisiert Einverständnis ebenso wie Distanzierung: Früher schwamm Brahms mit seinen Freunden und Zeitgenossen auf der romantisch träumerischen, zugleich wehmütig wie alles in Wohlgefallen auflösenden Eichendorff-Welle. Er soll sogar einmal behauptet haben, den gesamten Eichendorff in Liedern vertont zu haben. Aber jetzt ist ihm das nur noch eine vergangene Jugendliebe, eben eine „jugendliche Schwärmerei“. Gleichwohl berührt, ja rührt es ihn, als er die Eichendorff-Lieder Herzogenbergs liest, und diese Rührung ist sicher nicht nur die allgemeine der Erinnerung an frühere Zeiten, sondern ganz konkret: Brahms hat sofort erfasst, was Herzogenberg mit diesen Texten verarbeitet: den Verlust seiner Gattin Elisabeth. Und da empfindet Brahms sympathisch mit, verband ihn doch eine sehr tiefe Beziehung gerade mit Elisabeth von Herzogenberg:

 

„Sing, Weide, singe, grüne Weide,

wie Stimmen aus der Liebsten Grab

zieht mich dein heimlich Lied voll Leide

zum Strom von Wehmuth mit hinab.“

 

Exakt an diesen Schluss des vorher zuletzt gehörten Liedes op.91,4 knüpft Brahms an, wenn er weiter schreibt:

Wehmütig genug freilich sprechen und klingen die Lieder, aber sie lassen an so unvergeßlich Liebes und Schönes denken, daß man nicht trüb und traurig wird.

Das unvergesslich Liebe und Schöne ist konkret die Erinnerung an Elisabeth von Herzogenberg, deren beeindruckende Lichtgestalt als Bild in der Vorstellung so kräftig wirkt, dass es die Trauer über den Verlust überwiegt. Im „lieblichen Eichendorff“ kann also Brahms seine Solidarität mit Herzogenberg bekunden im Blick auf den Tod von Elisabeth und dessen Bewältigung. Im Sommer 1895 waren dreieinhalb Jahre vergangen, seit Elisabeth von Herzogenberg am 7.Januar 1892 ihrer Herzkrankheit erlegen war.

 

Herzogenberg hatte die Noten an Brahms offensichtlich ohne Begleitschreiben geschickt und damit zum Ausdruck gebracht, dass diese neuen Werke als persönliche Botschaft von ihm gelten. Brahms aber möchte auf dieser psychologischen Tiefenschicht nicht einsteigen und fragt nach dem konkreten gesundheitlichen Ergehen:

Gern hörte ich mit ein paar Worten, wie es Ihnen geht, aber ein so fleißiger Mann wie Sie hat eigentlich immer schon geantwortet.

Das ist typisch Brahms. Er macht einen emotionalen Schritt nach vorne und auf der Stelle folgt ein ironischer Rückzug: Kokettiert er sonst oft mit seiner eigenen Schreibfaulheit, nimmt er hier den wohl vorhandenen Wunsch nach einem persönlichen Brief Herzogenbergs gleich wieder zurück: Von einem Manne, der so fleißig am Komponieren ist, darf man ja nicht erwarten, dass er Briefe schreibt. Das Lob des Fleißes ist bei Brahms aber immer doppelbödig: fleißige Komponisten sind ihm suspekt, vor allem wenn dieser Fleiß sich in Werken mit geistlicher Thematik austobt. Im Juni desselben Jahres hat er in einem Brief an Clara Schumann die Kollegen Max Bruch und Herzogenberg ob ihrer neuen geistlichen Werke als „bloße Notenschreiber“ verächtlich gemacht. Und dass der ansonsten von ihm sehr geschätzte Dvorak so unbedarft große geistliche Werke schreibe, erklärt er einmal ironisch damit, Dvorak sei eben so fleißig, dass er gar nicht zum Nachdenken über die von ihm vertonten Texte komme. Als „fleißigen“ Kirchenkomponisten sieht Brahms seinen Freund Herzogenberg in einer anderen Sphäre sich bewegen. Die zuvor in diesem Brief in Bezug auf Eichendorff und Elisabeth artikulierte Gleichgestimmtheit wird also sogleich unter Vorbehalt gestellt.

Die Diastase der aktuellen Lebenssphären betont Brahms zudem im Schlussgruß:

So seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrem, sich im behaglichsten Genießen sehr wohl befindenden J.Brahms

Mit zwei Superlativen unterstreicht Brahms den Gegensatz der Lebenshaltung: statt fleißiger Arbeit genieße er nicht nur, d.h. komponiere gar nicht, sondern befinde sich „im behaglichsten Genießen“ und dabei gehe es ihm nicht nur gut, sondern „sehr wohl“.

 

Dieser Brief von Brahms ist datiert vom 8. August, schon am 11. August, quasi postwendend reagiert Herzogenberg, für den Briefe von Brahms stets etwas ganz besonderes bedeutet haben. Seine Reaktion zeigt, dass er zum einen die für Brahms ungewohnte Emotionalität, zum andern aber auch die impliziten Abgrenzungen erfasst hat.

 

Lieber verehrter Freund! – Herzogenberg schreibt in der Anrede immer etwas mit „Verehrung“ und stellt sich so als „Verehrer“ unter Brahms.

Das freut mich, daß meine Lieder mir ein so liebes Briefel eingebracht haben!

 

Die Mundartwendung „liebes Briefel“ – österreichisch wohl gezielt im Blick auf den Verweilort von Brahms -, diese Wendung signalisiert, dass die implizite Intimität der Worte bei Herzogenberg ankam. Ein „liebes Briefel“ war das, mehr will und kann er dazu nicht sagen, schließlich geht es in den Liedern ja um seine Frau Elisabeth.

Dann aber nimmt Herzogenberg die Thematik „ernstes Streben“ auf und artikuliert seine Enttäuschung, dass Brahms zu dem wirklichen kompositorischem Novum, zum Kirchenoratorium Die Geburt Christi nichts gesagt hat.

Ich hätte zwar eher gedacht, daß das Kirchenoratorium in Species und Methode eine nette, warme, franke, zustimmende oder ablehnende Äußerung von Ihnen erleben würde. Ich gestehe auch, daß ich mich ein Weilchen darauf gefreut hatte;

Da ist sie wieder, die Enttäuschung, welche der „verehrte Freund“ zeitlebens bereitet hat. Er sagt einfach nichts oder nur indirekt etwas zu Herzogenbergs Kompositionen. Selbst für eine Ablehnung wäre er ja dankbar! Und doch komponiert er immer wieder neu mit der inneren Erwartung: Was wird er – Brahms – dazu sagen? Nun, er hat diesmal etwas gesagt zu den Liedern, zwar nichts spezifisch musikalisches, aber immerhin – jedoch nichts zu dem, was wirklich neu ist „in Species und Methode“, das in Heiden zusammen mit Friedrich Spitta ausgeheckte Weihnachtsoratorium.

Der Stachel der Enttäuschung sitzt – Herzogenberg weicht aus auf das Handicap der Augenentzündung, das ihn befallen hatte:

dann kam aber die teuflische Augenentzündung, und ich schloß geduldig die Augen und besah mich von innen. Es ist nicht hübsch, kann ich Ihnen sagen, wenn die Welt so ratzenkahl um einen wird.

Die Augenkrankheit wird hier nicht nur als Faktum benannt, sondern auch als einschlägige Lebenserfahrung gedeutet. Herzogenberg musste blind mit Augenkappen leben und dieses „die Augen schließen“ zwingt ihn zur Selbstbesinnung, zur Preisgabe der Abhängigkeit von äußeren Anregungen und Urteilen. Als krankheitserfahrener akzeptiert er das „geduldig“ und „besieht sich von innen“ – muss verzichten auf das Schielen nach Lob und Anerkennung. Doch „es ist nicht hübsch“ muss er diese Erfahrung resumieren, „wenn die Welt so ratzenkahl um einen wird.“ Genau genommen ist das ein Aufschrei: Verehrter Brahms, siehst Du nicht, wie angewiesen ich auf Dich und die Zuwendung Deines Gesichtes bin?

Dankbar, der ratzenkahlen Blindheit entronnen zu sein, möchte Herzogenberg mit seinem neu gewonnen Augenlicht nun Schönes sehen, das heißt schöne Musik lesen. So reklamiert er bei Brahms die eigentlich fällige Zusendung von dessen op.120, den beiden Klarinettensonaten, die Brahms für den herausragenden Klarinettisten Mühlfeld am Meininger Hof geschrieben und auch publiziert hatte.

Recht lieblich wäre es jetzt für mich, Klarinettensonaten zu lesen; sollten Sie in alter Güte an mich gedacht haben, so könnten die lieben Dinger leicht in Berlin stecken geblieben sein; ein Wink von Ihnen, und sie fliegen her ....

Das Pendant zum „lieblichen Eichendorff“ auf seiten von Brahms könnten für Herzogenberg „recht liebliche“ Klarinettensonaten sein. Offenbar hatte Brahms aber sein „alte Güte“ preisgegeben und die Neuerscheinung nicht zugesandt. Seit Elisabeth von Herzogenberg tot war, die Brahms nach Notensendungen immer mit ausführlichen Laudationes eingedeckt hatte, war das Bedürfnis zum Austausch über Musikalien bei ihm wohl nicht mehr so groß.

Herzogenberg versucht zum Schluss seines Briefes noch, ein persönliches Zusammentreffen zu arrangieren. Natürlich will er dem verehrten Brahms wie allen seinen Freunden unbedingt sein Haus Abendroth in Heiden zeigen, aber er spürt, dass er allein zu wenig attraktiv ist, um Brahms aus Ischl weg zu locken. So bringt er Clara Schumann, die alte Vertraute von Brahms, mit ins Spiel.

Hoffentlich wird mir’s dies Jahr so gut, daß ich Frau Schumann in Interlaken aufsuchen kann. Wollen Sie dann nicht auch mal hin? Mit kleinem Abstecher nach Heiden? Ich führe Sie inkognito über Rapperswyl und Brüning zu ihr.

Das ist eigentlich ganz raffiniert eingefädelt, hat aber trotzdem nicht geklappt. Brahms nämlich arrangierte im Briefverkehr mit Clara Schumann in diesen Sommerwochen einen Besuch bei ihr zu Hause in Frankfurt erst nach den Sommerferien Anfang Oktober.

Der Schlusssatz im Herzogenberg-Brief nimmt direkt Bezug auf die Schlusspassage des Brahms-Briefes und bestätigt ironisch die Diastase der Lebenswelten:

Um Ihre „behaglichen Genüsse“ könnte ich Sie beneiden; ich glaube immer noch, daß ich was machen müsse – beten Sie für mich!  Ihr getreuer Herzogenberg.

Herzogenberg schlüpft hier exakt in das Gewand, das ihm Brahms angezogen hat: die Mönchskutte des reuigen Künstlers, der meint, für sein Seelenheil noch etwas „Ernstes“ machen zu müssen, also Kirchenmusik. Darum die ironische Bitte „beten Sie für mich“ – de facto würde die Fürsprache des Genussmenschen Brahms ja absolut nichts zum Seelenheil beitragen können. Genau betrachtet steht Herzogenberg aber zu seiner Entscheidung gegen das „Genießen“. Der Neid darüber, dass Brahms sich das leisten kann, ist nur Konjunktiv. Herzogenberg „glaubt immer noch“ - das ist eine Verstärkung, nicht eine Einschränkung -, dass er etwas Sinnträchtiges Komponieren muss. Und „beten Sie für mich“ wäre so gesehen zu lesen als dringlicher Appell an den Freund, diesen seinen Weg doch mit zu tragen.

Nach diesem je einfachen Briefwechsel herrschte offenbar ein Jahr Funkstille. Erst im nächsten Sommer entsonn sich Brahms wieder der Freundschaftspflege und zwar im Zusammenhang mit dem Erscheinen seiner Vier ernsten Gesänge, die er Anfang Mai 1896 zu seinem 63.Geburtstag vollendet und alsbald als op.121 zum Druck gebracht hatte. Er wies den Verlag an, eine Reihe von Freunden sogleich nach Erscheinen mit den Noten zu bedienen. Seinem Freund Herzogenberg schrieb er wieder von Ischl aus eine eigentümliche Ankündigung, ja Vorwarnung:

Lieber Freund.                                                                                                                  

Es ist überhaupt traurig, daß man so wenig voneinander hört – aber durch Briefschreiben kann ich mir das schwerlich verdienen! Nun möchte ich Sie aber um Ihre sommerliche Adresse bitten. Ich habe nächstens eine Kleinigkeit zu schicken – die Sie veranlassen kann, mich in Ihrer neuen Zeitung wegen unchristlicher Gesinnung anzugreifen! Anderes nicht so Bedenkliches, aber nicht für den Druck Geeignetes hätte ich gar gern am Klavier mitgeteilt.

Aber nach Österreich und zwar nach Ischl kommen Sie wohl nicht!

Jedenfalls bitte ich um Ihre Adresse und grüße herzlichst Sie und Ihre liebe Hausgenossin.

                        Ihr J.Brahms

Das ist ganz schön frech, oder? - Mit der „neuen Zeitung“, auf die Brahms anspielt, ist die Monatschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst gemeint, welche Herzogenbergs Theologenfreund Friedrich Spitta zusammen mit Julius Smend in Straßburg mit April des Jahres gestartet hatte (die bald zu einer sehr renommierten Zeitschrift wurde). Es ging da um liturgische Erneuerung in der evangelischen Kirche mit bewusster Integration der Künste. Auf der Suche nach Mitarbeitern unter Theologen und Künstlern hatte Spitta auch Brahms den Aufruf zur Mitarbeit geschickt und via Postkarte eine Abfuhr erhalten. Herzogenberg aber ließ sich selbstverständlich einspannen und schrieb schon im ersten Jahrgang Grundsatzartikel, was Brahms in seinem Bild vom „fromm gewordenen“ Kirchenmann Herzogenberg bestätigte und offenbar ziemlich ärgerte. Wie sonst hätte er so frech ihm die Ernsten Gesänge ankündigen können:

Ich habe nächstens eine Kleinigkeit zu schicken – die Sie veranlassen kann, mich in Ihrer neuen Zeitung wegen unchristlicher Gesinnung anzugreifen!    

Allerdings, auch diesmal folgt – nur anders gepolt – sofort die Gegenäußerung. Eigentlich möchte Brahms seinen alten Freund endlich wieder persönlich treffen und ihm etwas „Intimes“, nicht für die Öffentlichkeit bestimmtes vorspielen. Dieses „weniger Bedenkliche“, aber „nicht für den Druck geeignete“ sind die elf Choralvorspiele für Orgel, die Brahms nach den ernsten Gesängen und nach dem inzwischen, am 20.Mai, eingetretenen Tod von Clara Schumann geschrieben (oder aus älteren Vorlagen redigiert) hat. Das ist also durchaus etwas von der Sorte, was er im ersten Brief eher verpönt hat, etwas kirchlich „Ernstes“. Gerade darum betrachtet er es – anders als bei Herzogenbergs Kirchenoratorium – als „nicht für den Druck geeignet“.

Vielleicht schon die Todeskrankheit in sich spürend, sieht sich Brahms aber nicht in der Lage, Ischl zu verlassen, von Österreich in die Schweiz zu kommen und gibt die Hoffnung auf ein Treffen mit Herzogenberg sofort wieder auf. Abschließend grüßt er ausdrücklich die „Hausgenossin“ Helene Hauptmann, als ob er bereits von allen Bekannten Abschied nehmen müsste.

 Herzogenberg war offenbar elektrisiert von der Brahms-Post und schrieb aus Heiden noch am selben Tag eine Antwort: 

Lieber, verehrter Freund!                                     Heiden bei Rorschach, Schweiz, 1. Juli 1896.

Ja ist’s denn heute Sonntag, daß mir so was Liebes begegnet? Ein so netter, netter Brief von Ihnen, und mit so spannenden Aussichten auf heidnische Musik – überhaupt Musik! Gott’s Donner, da will ich auch gleich verraten, daß wir seit Anfang Juni hier sind, viel unnützes Zeug komponieren und uns viel anregen und anregen lassen von Muttern Natur, die’s verantworten muß.

Herzogenberg pariert die Frechheit mit Humor: „ein netter, netter Brief“ sei das! Ob unchristliche, heidnische Musik, völlig egal, Hauptsache überhaupt Musik aus der Feder von Brahms. Gerade so belegt er, dass er nicht zum sturernsten Kirchenmann mutiert ist. Er selbst komponiere „viel unnützes Zeug“, hält er pointierend dagegen, also gerade nichts „Ernstes“. Es könnten Balladen gewesen sein, die dann später als op.100 erschienen. In bester Laune unternimmt er einen weiteren Versuch, Brahms von Österreich in die Schweiz zu locken oder überhaupt ein Treffen zu organisieren: 

 

Die beste Methode, ins Ausland Musikalien zu schicken, ist: „Geschäftspapiere, rekommandiert“ – dies so beiläufig; am gescheitesten ist’s aber, man setzt sich mit seinen Noten auf die Eisenbahn. Bei uns wäre der ganze August still; warum sollten Sie nicht wieder einmal in die Schweiz kommen? Fahre ich doch gegen Ende September über Graz nach Berlin. Finde ich Sie da noch in Ischl? Ich könnte leicht den kleinen Abstecher noch einfügen; oder träfe ich Sie circa 29. September in Wien?

Was meine neugewaschene Kirchlichkeit betrifft, so erinnere ich Sie an das Sprichwort: „Wer nicht glauben will, muß fühlen“ – glauben tu‘ ich gar nichts, also empfinde ich was.

Und heute schon gar!

Helene sagt alles Schöne, sowie Ihr Herzogenberg.

 

Zum Schluss legt Herzogenberg da noch einen drauf und weist das Bild vom linientreuen Kirchenmusiker in die Schranken. Dogmatik, Anhängerschaft an die kirchlichen Lehren war in Gebildeten- und Künstlerkreisen damals absolut verpönt, erst recht bei Brahms. So betont Herzogenberg: „Glauben tu ich gar nichts.“ Da aber das Gefühl zumindest bei den Romantikern der Ort des Zugangs zur Unendlichkeit ist, kann er mit dem Sprichwort „Wer nicht glauben will, muss fühlen“ sein religiöses Engagement sozusagen in witziger Form plausibel machen. Und zu demselben Fühlen gehört auch die Freude über den Brief von Brahms: „Also empfinde ich was. Und heute schon gar!“ Damit hat Herzogenberg die Antithetik von Brahms ausgehebelt: Ich fühle was und erlaube mir daher, mich über einen Brief von Brahms ebenso zu freuen wie über den lieben Gott.

 

Nun aber dürfen sie endlich wieder Musik hören - heidnische Musik, ja überhaupt Musik von Brahms, wie sie im Juli 1896 ins Abendroth nach Heiden geflattert kam. Wir hören zunächst die ersten beiden der Vier ernsten Gesänge.  Beachten Sie, dass Brahms diese Lieder als „ernste Gesänge“ tituliert. Es ist seine Version des „ernsten Lebens und Strebens“ und vielleicht ist der intendierte Gegensatz zu Herzogenbergs „ernster“ Kirchenmusik sogar konstitutiv für deren Entstehung. Dem gemeinsamen Freund Engelmann gegenüber, der ihn im Sommer 1896 in Ischl traf, soll er mit Fingerzeig auf die ernsten Gesänge gesagt haben: „Haben Sie meinen Protest gesehen?“ – den Protest gegen die kirchliche Vielschreiberei der Herren Herzogenberg und Bruch!

 

 

Johannes Brahms, Vier ernste Gesänge mit Klavierbegleitung  op. 121
 

1.      Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh, wie dies stirbt, so stirbt er auch

und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr denn das Vieh:

denn es ist alles eitel.

Es fährt alles an einen Ort, es ist alles von Staub gemacht und wird wieder zu Staub.

Wer weiß, ob der Geist des Menschen aufwärts fahre

und der Odem des Viehes unterwärts unter die Erde fahre?

Darum sahe ich, dass nichts bessers ist, denn dass der Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit,

denn das ist sein Tiel.

Denn wer will ihn dahin bringen, dass er sehe, was nach ihm geschehen wird? 

(aus Prediger Salomo 3)

 

2.      Ich wandte mich und sahe an, alle, die Unrecht leiden unter der Sonne,

und siehe, da waren Tränen derer, die Unrecht litten und hatten keinen Tröster,

und die ihnen Unrecht täten, waren zu mächtig, dass sie keinen Tröster haben konnten.

Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren

mehr als die Lebenden, die noch das Leben hatten,

und der noch nicht ist, ist besser als alle Beide

und des Bösen nicht inne wird, das unter der Sonne geschieht. 

(aus Prediger Salomo 4)       

 

 

 

 

Wie Brahms Herzogenberg mit seinen Schnaderhüpferln überraschte.

 

Was Brahms da an Texten aus der Bibel herausgezogen hat, ist tatsächlich bemerkenswert unchristlich. Seinem Verleger kündigt er sie an als „Worte, die eigentlich die Polizei verbieten müsste, wenn sie nicht in der Bibel stünden.“ Und bei Bekannten hat er tatsächlich Erkundigungen angestellt, ob es denkbar wäre, dass die Zensur Aufführungen der Vier ernsten Gesänge wegen der Texte verbieten könnte. In einer Art bitterer Ironie sprach er vor Freunden öfter von seinen Schnadahüpferln.

 

Solch radikale, schonungslose Bestimmung der conditio humana steht tatsächlich in der Bibel. Satz I: Der Mensch ist sterblich, nichts als sterblich wie jedes Tier – pfui idealistische Überhöhung zur Unsterblichkeit von Geist, Seele, Karma oder sonst was! Satz II: Unrecht regiert die Welt – zum Teufel alle hehren Weltverbesserungsprogramme ob aristokratisch, bürgerlich demokratisch oder sozialistisch. Oder im Jargon eines Jugendlichen von heute: Das Leben ist und bleibt beschissen. So stellt sich tatsächlich die Frage, ob gar nicht geboren zu werden nicht besser wäre.

 

Wie reagiert Herzogenberg, der „immer noch“ an eine Heilsperspektive für Kunst, Kirche und Welt glaubende und dafür arbeitende auf diese Provokation?

 

Verehrter Freund!                                                                                      Heiden, 15. Juli 1896.

Besten Dank für die „Ernsten Gesänge“ – Sie wissen doch immer neue Überraschungen zu bereiten! Wer ist vor Ihnen auf die Idee gekommen, Bibelworte in freier, von jeder kirchlichen oder liturgischen Verbindung gänzlich unabhängiger Weise zu komponieren!

 

Das ist zunächst eine ziemlich neutrale Reaktion: eine „Überraschung“ war das. Herzogenberg geht nur auf Formales ein, nicht auf Inhaltliches: Er rühmt als epochale Leistung die souveräne Bibelwortwahl in absolut eigenständiger Zusammenstellung ohne jegliche kirchlich-liturgische Anbindung. Nach dem Tod von Brahms wird er das in einem Gedenkartikel für die „neue Zeitung“ seines Freundes Spitta als „kernprotestantische“ innere Haltung anpreisen.

 

Aber diese subjektive Textwahl führt dazu, dass die Lieder als Gattung kaum mehr zu lokalisieren sind. Wo haben sie ihren „Sitz im Leben“? So fragt er, weiter auf der formalen Schiene:  

 

Was werden nur die Sänger damit machen? Ich sehe sie schon nach Tisch im Salon von Denen singen, „Die noch wohl essen mögen“; denn die Dummheit hat keine Grenzen. Ich frage mich allen Ernstes, wo gehören sie hin? Denn ein bißchen Gelegenheitsmusik muß doch alles sein.

 

„Wo gehören sie hin?“ Das fragt ein Herzogenberg, der zu dieser Zeit in Gestalt von Kirchenmusik das Prinzip „Gelegenheitsmusik“ neu für sich entdeckt hat, der ganz fasziniert davon ist, mit seinen Liturgischen Gesängen und Kirchenoratorien einen Sitz im Leben für seine Kunst gefunden zu haben, die zum Gottesdienst versammelte Gemeinde. Sicher hätte er sich davon nicht so stark in Bann ziehen lassen, wenn er nicht prinzipiell sensibilisiert gewesen wäre dafür, dass Musik in Lebenszusammenhängen verortet sein will, also nicht l`art pour l`art ist, wie es bestimmte Ideologen seiner Zeit propagierten. Herzogenberg erkennt wohl präzise, dass Brahms hier selbstbezüglich komponiert hat. Er wollte noch sagen, was er zu den letzten Fragen des Daseins sagen will und dabei war es ihm egal, bei welcher „Gelegenheit“ so etwas gesungen werden sollte. Am Authentischsten war wohl die für alle Anwesenden ergreifende Darbietung durch Brahms selbst im engen Freundeskreis in den Tagen nach Clara Schumanns Beerdigung in Bonn. In Liederabende passt das nicht wegen der „ernsten“ Texte, in die Kirche passt es nicht wegen der Klavierbegleitung und wegen der „unchristlichen“ Aussagetendenz, in hehre Totengedenkfeiern oder zu Requiemsaufführungen passt es nicht, weil es dafür musikalisch zu karg ist. So zeigte sich schon früh das Bedürfnis nach Bearbeitungen und bereits Max Reger schrieb eine Orchesterfassung. Nach 1945 taten sich auch Kirchentüren auf für solch anstößige Bibeltexte und verschiedene Kirchenmusiker verfertigten Orgelfassungen. „Wo gehören sie hin“, fragt Herzogenberg zu den Ernsten Gesängen zu Recht „allen Ernstes.“

 

Er geht in seinem Brief aber auch noch konkret auf die Gesänge ein, jedoch nur auf die Musik, nicht auf das Inhaltliche. So lässt er den von Brahms in der Ankündigung ausgeworfenen Fehdehandschuh einfach liegen.

 

Sie können dazu die Achseln zucken, und haben Ihre Freude vorweg, Stücke von so herrlicher Tiefe geschaffen zu haben; und ich, Sie in Ihrer Technik und Ihrem Ausdruck anstaunen zu können. Vor allen das III.! Wie herrlich schwelgt es sich im E dur-Teile; man kann’s förmlich nicht erwarten, mit so vollen, lieblich herben und sehnsüchtig weichen Harmonien hinübergezogen zu werden!

Den III. der Gesänge haben Sie noch nicht gehört, darum jetzt vorneweg den besagten E-Dur-Teil, der sich vom herben e-Moll des Anfangs tatsächlich wunderbar abhebt.

 

            (Vortrag III. ab Tonart- und Taktwechsel, aber nur bis zur Fermate – ohne Schluss)

 

Herzogenberg hebt noch eine weitere Stelle explizit hervor:

 

Und die schöne H dur-Melodie in Nr. IV, und die ganze Nr.II! Mit allem geht’s nicht so rasch, und das ist das Schöne, dass überall noch Neues hervorwachsen wird.

Die benannte H-Dur-Stelle stellen wir Ihnen auch separat vor. Im Kontext des eigentlich in Es-Dur stehenden Satzes ist das schon auffallend. Man erlebt es tatsächlich wie einen Sprung in eine andere Wirklichkeit: „dann aber werde ich erkennen ...“

 

(Vortrag IV. Adagio mit den zweit Takten Klavierüberleitung zuvor bis Schlussnote „bin“)

 

Es ist auffallend, dass Herzogenberg hier zwei Stellen hervorhebt, die mit E-Dur und H-Dur in den Tonarten stehen, welche für ihn selbst eine ganz herausragende Bedeutung haben. Wir werden das auch morgen bei seiner e-Moll-Messe sehen. Sein Klavierquartett op.75, geschrieben in den Wochen vor und nach dem Tod Elisabeths, steht zwischen e-Moll im ersten und dritten und E-Dur im vierten Satz, der langsame zweite Satz steht in H-Dur. E und H sind die Initialen des Namens seiner Frau. H-Dur ist in seinen geistlichen Werken die Symboltonart für das ewige Leben. Dass auch Brahms mit den Initialen E und H in Notengestalt spielt, belegt ein Brief vom 27.Oktober 1890 an die Herzogenbergs. Könnte es sein, dass er diesen dritten Gesang zwischen e-Moll und E-Dur als Epitaph für Elisabeth gedacht hat: „O Tod, wie bitter bist du – O Tod, wie wohl tust du“? Und da läge noch mehr als intuitives Einverständnis in der Sehnsucht Herzogenbergs, mit solch „lieblich herben und sehnsüchtig weichen Harmonien hinübergezogen zu werden“, sprich zu sterben, das heißt seiner Gattin Elisabeth nachzufolgen. - Auch die Huldigung an die Liebe im vierten Satz könnte dem speziellen Gedenken an Elisabeth geschuldet sein, wie schon Brahms-Biograph Kalbeck meinte eruieren zu können im Blick auf ein ominöses Rückert-Gedichtzitat in einem erhaltenen Skizzenblatt. (Jedenfalls gibt es auch in der zweiten der beiden Elisabeth gewidmeten Rhapsodien op.79 ein ähnliches Herumschweifen in den Tonarten. Jenes Stück steht eigentlich in g-Moll, erreicht aber schon nach wenigen Takten den mit Fermate hervorgehobenen H-Dur-Akkord als leuchtenden Gegenpol.)      

Zurück zu Herzogenbergs Brief. Am Schluss muss er doch noch zur inhaltlichen Kriegserklärung von Brahms Stellung beziehen. Wieder pariert er souverän:

Und so zucke ich schließlich auch die Achseln und überlasse es meinen Freunden, den „Pfaffen“, die schon lüstern ausgestreckte Zungen wieder resigniert einzuziehen.

 

„Meine Freunde, die Pfaffen“, das ist Jargon der in Wien modischen und im Blick auf die katholische Kirche wohl auch berechtigten Klerikalismuskritik. Damit kann Herzogenberg souverän spielen, indem er es auf seine evangelischen Theologenfreunde in Straßburg überträgt. Er weiß aber genau, dass diese (als ausgewiesene „liberale Theologen“) ebenso wie er selbst erhaben sind über dogmatische theologische Spiegelfechtereien: Der Text steht in der Bibel und die Musik erfasst diesen mit einer Ausdruckstiefe, die ihresgleichen sucht. Was soll`s?

Hören wir nun die Gesänge Nr.3 und 4.

 

 

Johannes Brahms                                    aus den Vier ernsten Gesängen op. 121
 

3.      O Tod, wie bitter bist du,

wenn an dich gedenket ein Mensch, der gute Tage und genug hat und ohne Sorge lebet,

und dem es wohl geht in allen Dingen und noch wohl essen mag!

O Tod, wie wohl tust du dem Dürftigen,

der da schwach und alt ist, der in allen Sorgen steckt

und nichts Bessers zu hoffen noch zu erwarten hat.   (aus Jesus Sirach 41)

 

4.   Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht,

so wär ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.

Und wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis

und hätte allen Glauben, also ,dass ich Berge versetzte,

und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.

Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen

und hätte der Liebe nicht, so wäre mir`s nichts nütze.

     Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Worte,

     dann aber von Angesicht zu Angesichte.

     Jetzt erkenne ich`s stückweise,

dann aber wird ich`s erkennen, gleichwie ich erkennet bin.

Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei,

aber die Liebe ist die größeste unter ihnen.   (aus 1. Korinther 13)

 

 

„Sie konnten zusammen nicht (mehr) kommen ...“

 

Liebe Zuhörer,

 

wenn wir am heutigen Todestag von Johannes Brahms dieses musikalische Vermächtnis hören, in der Originalfassung soeben und heute abend in einer Orchesterbearbeitung, so soll dies wahrlich genug sein und unseren Respekt vor dem Komponisten bezeugen. Ich will nicht noch in eine Erörterung darüber eintreten, inwieweit diese Gesänge nun tatsächlich unchristlich gemeint sind und damit die Frage nach der Religiosität von Brahms thematisieren – im Gegenüber etwa zu der Herzogenbergs. Zu ersterem ist vor kurzem im Bärenreiterverlag eine herausragende Untersuchung von Jan Brachmann erschienen.

 

Da es heute Nachmittag um den Dialog zwischen Herzogenberg und Brahms in ihren letzten Lebensjahren geht, sei aber noch kurz nachgezeichnet, wie das von beiden dringend gewünschte Zusammentreffen doch nicht mehr zustande kam.

 

Den Dankbrief für die Ernsten Gesänge schloss Herzogenberg:

 

Und wo sehe ich Sie? In Heiden? In Ischl? In Wien?

In alter aufrichtiger Verehrung Ihr herzlich ergebener H. Herzogenberg.

Herzogenberg rief also nochmals seine Vorschläge zu einem Treffen aus dem Schreiben 14 Tage zuvor in Erinnerung und schloss mit einer besonders deutlichen Verbundenheits- und Ehrerbietungsadresse: „In alter aufrichtiger Verehrung Ihr herzlich ergebener H. Herzogenberg.“ Das ist zum einen die übliche Unterwürfigkeitsgeste dessen, der in Brahms den größeren Meister erkennt und verehrt, zum anderen mit der Betonung „in alter aufrichtiger Verehrung“ die Bekräftigung: Mein Lieber, Sie können meinen Glauben an Sie auch mit ihrer sogenannt unchristlichen Provokation nicht irre machen.

Als Antwort erhält Herzogenberg eine sechs Tage später datierte, knappe Postkarte aus Ischl: 

Die gute Aufnahme meiner Schnaderhüpfeln bei Ihnen hat mich außerordentlich erfreut, und ich danke bestens! Ein Wiedersehen darf ich wohl erst hier oder in Wien erhoffen. Ich bitte daher, ehe Sie die Fahrt antreten, anzufragen, ob ich hier oder dort bin! Auf ein paar gemütliche Tage möchte sich gern freuen Ihr herzlich grüßender

J.Br.

Das ist zunächst ein knapper, aber durchaus herzlicher Dank für die Rückmeldung zu den Ernsten Gesängen, gespickt mit der bei Brahms wohl schon Standard gewordenen ironischen Bezeichnung „Schnadahüpfeln“ für diese eigentümlichen Lieder. Ich deute das als Deckname für „Totentanz“. Brahms ahnte wohl schon, dass dies sein Abgesang aus der Welt sein würde.

 

Die noch schuldige Antwort auf die Vorschläge zu einem Treffen fällt gleichfalls knapp aus: An Selber-Reisen denkt Brahms nicht, so kommen nur Visiten von Herzogenberg bei ihm in Ischl oder dann in Wien in Frage. Der Schlusswunsch ist durchaus herzlich und wohl auch ehrlich, aber wohl schon mit Zweifeln ob des Gelingens gepaart: „Auf ein paar gemütliche Tage möchte sich gern freuen“.

 

Zur selben Zeit beobachten Freunde bei Brahms Symptome einer Gelbsucht und nötigen ihn, einen Arzt aufzusuchen. Am 2. September muss er Ischl zur Kur nach Karlsbad verlassen. Er vergisst das anvisierte Treffen mit Herzogenberg jedoch nicht und schreibt aus Karlsbad in sichtlicher Verstörtheit am 15. September nach Heiden:

 

 Lieber Freund.                                                                                           

In Ischl treffen Sie mich keinesfalls. Einstweilen bin ich hier in Karlsbad, versuche aber bis jetzt vergebens, das bißchen Gelbsucht zu vertreiben. Zum 28. hoffe ich in Wien zu sein. Sie halten sich dort wohl jedenfalls auf? Sonst könnte seinerzeit Genaueres melden

Ihr herzlich grüßender J. Br.

 

Daraus spricht Verzweiflung darüber, dass es nichts mehr werden könnte mit einem Treffen. Als Perspektive verbleibt nur noch Ende September in Wien, wenn Herzogenberg da auf der Durchreise Station macht. Brahms kommt aber erst später aus Karlsbad nach Wien und so konnten sie zusammen nicht mehr kommen.

 

Herzogenberg allerdings gelang noch ein letzter großer Erweis seiner Verehrung für Brahms: Das gestern abend hier vorgestellte Klavierquartett in B- wie Brahms-Dur, entstanden im Herbst 1895 zwischen den Arbeiten zur Passion, widmete er ihm. Im Kontext dieses Briefwechsels betrachtet enthält die Musik eine versteckte Botschaft an Brahms: Wenn im dritten Satz plötzlich Pastoralmusik erklingt mit ziemlich deutlicher Anspielung auf „Kommet ihr Hirten“ aus dem Weihnachtsoratorium, das Brahms nicht zur Kenntnis nehmen wollte, so zeigt Herzogenberg damit deutlich, dass für ihn jenes „ernste Leben und Streben“ zugunsten der Kirchenmusik und das komponieren von Musik, schlicht Musik, keine zwei Welten sind und er sich nicht in die von Brahms errichtete Schablone des frommen Kirchenmannes zwängen lässt.  

 

Das Widmungsexemplar des frisch gedruckten Werkes war eine der letzten Sendungen, die Brahms vor seinem Tod erreichten. Herzogenberg schrieb ihm dazu:

 

Lieber verehrter Freund!                            Berlin W 62, Kurfürstendamm 263. 26. März 1897.

Zwei Dinge kann ich mir nicht abgewöhnen: Daß ich immer komponiere, und daß ich dabei ganz wie vor 34 Jahren mich frage, „was wird Er dazu sagen?“

„Er“, das sind nämlich Sie. Sie haben nun zwar seit längeren Jahren nichts dazu gesagt; was ich mir deuten mag, wie ich will. Meiner Verehrung für Sie hat es aber keinen Eintrag getan. Und so betone ich sie wieder einmal durch eine Zueignung, die Sie mir freundlich zugute halten mögen!

Meine Gedanken sind jetzt mehr wie je bei Ihnen, da ich Sie leidend weiß. Möge das Frühjahr die Möglichkeit einer Luftveränderung bringen; ist sie auch nicht immer direkt von medizinischem Werte, so erfrischt und ermuntert sie doch den Organismus und hebt die Stimmung. Und daß hiervon die Genesung abhängen kann, leugnet kein Arzt.

In alter Treue und Verehrung Ihr H. Herzogenberg.

 

Brahms soll noch eine Antwort diktiert haben, die aber für die Briefpublikation von Helene Hauptmann nicht zur Verfügung gestellt wurde und so verschollen ist.

 

Der 3. April 1897 war wie in diesem Jahr ein Samstag. Brahms starb morgens gegen 9 Uhr in seiner Wiener Wohnung. Am selben Tag abends dirigierte Herzogenberg in der Berliner Marienkirche die erste Gesamtaufführung seiner Passion, ein weiteres großartiges Dokument seines „so ernsten Lebens und Strebens“. Ich konnte nicht eruieren, ob er bis zum Konzertbeginn abends die Todesnachricht bereits erhalten hatte. Zwei Tage später schreibt er an Freund Spitta in Straßburg, berichtet von seiner Passions-Aufführung und schließt „Fahre eben nach Wien zum Begräbnis des Einzigen – welch ein Abgrund ist die Zukunft!“  In bewegenden Briefen an die Freunde Engelmann und Röntgen in Holland schilderte er dann seine Eindrücke von der Beerdigung und was der Tod von Brahms nun für ihn bedeutete.

Mit Brahms hatte Herzogenberg nach Elisabeth und Philipp Spitta seine dritte zentrale Bezugsperson verloren. So war er allerdings auch schon richtig Trauerarbeits-erfahren und konnte im Laufe des folgenden Jahres sein opus magnum, die Erntefeier zur Vollendung bringen.

 

Hören wir zum Abschluss dieser Veranstaltung nochmals drei Lieder aus seinen Elegischen Gesängen, Zeugnisse der Trauerarbeit aus dem Sommer 1893 in Heiden. Auch die als op. 105 erst im Todesjahr Herzogenbergs, 1900, erschienene zweite Folge wird ohne Ausnahme im Sommer 1893 entstanden sein. Nur bei zweien dieser Gesänge aus einem Zyklus von Kindertotenliedern Eichendorffs ist das Autograph mit entsprechender Datierung erhalten. Die gewählten Texte zeigen überdeutlich: Auch dies ist Trauerarbeit am Verlust von Elisabeth. Es sind nicht weniger „ernste Gesänge“ als die von Brahms und sie sind, obgleich nicht biblisch, tatsächlich um einiges christlicher. Ans Ende des Zyklus stellt Herzogenberg das Lied „Ergebung“: Ergebung in Gottes Willen.

 

Wir stellen ans Ende den letzten Gesang aus op. 91, weil es damit eine besondere Bewandtnis hat. Herzogenberg schrieb das Lied am 12. September 1893 zur Abreise der Familie Philipp Spittas, die einige Wochen im Abendroth verbracht hatten, und gab ihnen wohl das in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrte Manuskript mit, auf welchem als Überschrift steht: „Der Spittchens Abschiedslied aus Heiden.“ Am Tag zuvor hatte Herzogenberg seinem neuen Spitta-Freund Friedrich in Straßburg Post geschickt mit der ersten Lieferung Liturgischer Gesänge für einen Adventsgottesdienst. Im Begleitschreiben sagte er da im Blick auf die bevorstehende Abreise der Spittas: „Nächsten Freitag verlässt uns die Bande, dann wird`s still und kühl.“ Das Eichendorff-Lied „Ade, ihr Felsenhallen, ade du schönes Waldrevier“ wurde wohl zum Inbegriff des definitiven Abschieds aus Heiden, denn Philipp Spitta sollte nicht wieder kommen. Er starb am 13. April des Folgejahres. Herzogenberg selbst aber hat genau diese Worte bei seinem letzten Abschied vom Abendroth im Herbst 1899 in das Gästebuch eingetragen, wie Friedrich Spitta bezeugte in seiner Rede zur Einweihung des Herzogenberg-Grabmales auf dem Wiesbadener Nordfriedhof im September 1902. Das Lied, auf einem zweiten Manuskript einfach mit „Abschied“ überschrieben, erschien in der Druckausgabe von op.91 als „Der Vögel Abschiedslied“ in Fis-Dur für eine hohe Stimme. Komponiert wurde es aber im feierlichen Es-Dur, passend wohl für die Bassstimme Philipp Spittas. Und in dieser Originaltonart hören Sie es jetzt. Vom Text her möchte ich Ihrer Aufmerksamkeit vor allem die letzte Strophe empfehlen.

 
 

Heinrich von Herzogenberg

 

Im Herbst                    op. 105, 4

Der Wald wird falb, die Blätter fallen,

wie öd` und still der Raum!

Die Bächlein nur gehen durch die Buchenhallen,

lind rauschend wie im Traum,

und Abendglocken schallen

fern von des Waldes Saum.

 

Was wollt ihr mich so wild verlocken                                  So brecht hervor nur, alte Lieder,

in dieser Einsamkeit?                                                     und brecht das Herz mir ab!

Wie in der Heimat klingen diese Glocken               Noch einmal grüss` ich aus der Ferne wieder,

aus stiller Kinderzeit.                                                       was ich nur Liebes hab`,

Ich wende mich erschrocken,                                         mich aber zieht es nieder

ach, was mich liebt ist weit!                                        vor Wehmuth wie ins`s Grab.

 

Ergebung                     op. 105,7

Es wandelt, was wir schauen,                                         Was gäb` es noch auf Erden,

Tag sinkt in`s Abendroth;                                           wer hielt` den Jammer aus,

die Lust hat eignes Grauen,                                     wer möcht` geboren werden,

und Alles hat den Tod.                                                           hielt`st du nicht droben Haus!

In`s Leben schleicht das Leiden                                            Du bist`s, der was wir bauen

sich heimlich wie ein Dieb;                                              mild über uns zerbricht,

wir Alle müssen scheiden                                               dass wir den Himmel schauen,

von Allem, was uns lieb.                                         darum so klag` ich nicht.

 

Der Vögel Abschiedslied            komponiert in Heiden am 12.9.1893            op. 91, 6

Ade, ihr Felsenhallen,                Träumt fort im stillen Grunde,                 Und ob sie all` verglommen,

du schönes Waldrevier!             die Berge stehn auf der Wacht,             die Thäler und die Höh`n:

Die falben Blätter fallen,            die Sterne machen Runde                     Lenz muss doch wieder kommen,

wir ziehen weit von hier.            die lange Winternacht.                             und Alles aufersteh`n.

 

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  Hören Sie zum Abschluss den Mitschnitt des obigen letzten Liedes «Der Vögel Abschiedslied» op. 91,6 mit Markus Oberholzer und Roland Degoumois.                         

 

 

 

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