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Zu den Choralmotetten op. 102

Konrad Klek

 

  

Als Kompositionsprofessor an der Berliner Musikhochschule veröffentlichte Heinrich von Herzogenberg (10.6.1843 Graz – 9.10.1900 Wiesbaden) im Jahre 1898 bei seinem Leipziger Verleger Rieter-Biedermann als Opus 102 diese vier Motetten zu Choralstrophen. Die Publikation war ebenso wie die als Opus 103 folgende von vier weiteren Motetten (ohne Cantus-firmus-Bezug) Resultat einer Sichtung von bereits länger vorliegenden Werken.

 

Herzogenbergs Beschäftigung mit der auf einen Cantus firmus bezogenen Motettenform ist zu datieren auf die mittleren Jahre seiner Leipziger Zeit (1872 – 1885). Nach dem Studium in Wien hatte er sich in seiner Heimatstadt Graz (1868 –1872) als Mitglied von bürgerlichen Chören zunächst verstärkt mit weltlicher Chormusik befasst (z. B. Lieder für gemischten Chor Op. 10, Deutsches Liederspiel Op. 14). In Leipzig wuchs ihm nach der Gründung des Bach-Vereins zusammen mit dem Bach-Biographen Philipp Spitta und anderen im Jahre 1875 bald auch die Aufgabe der Leitung dieses Chores zu, der sich dem Kantatenwerk des Thomaskantors verpflichtet sah, in einigen Konzerten im «Vereinshaus» oder auswärts in Grimma aber auch weltliche und geistliche A-cappella-Literatur alter und neuer Zeit zum Vortrag brachte. Da Herzogenberg als Chorleiter grossen Wert auf reine Intonation legte, konnte er Chorlieder und Motetten als Chorschulung nutzen. Die Beschäftigung mit Bachs Kantaten brachte ihn, der u. a. in einem Jesuitengymnasium in Feldkirch katholisch erzogen, als Musiker aber nicht speziell kirchenmusikalisch geprägt worden war, in Kontakt mit der protestantischen Kirchenmusiktradition, ihren spezifischen Formen (z.B. Motette, Choral) und ihrem geistlichen Gehalt, wovon er sich offenbar faszinieren liess.

 

Andererseits war das Erscheinen des Altdeutschen Liederbuchs von Franz Magnus Böhme im Jahr 1877, eine umfassende und kommentierte Dokumentation des deutschen Volksliedgutes (Texte und Melodien) aus dem 12. bis 17. Jahrhundert, für Heinrich von Herzogenberg offenbar ein entscheidender Anlass, einfachere Chorlieder zu schreiben, diese mit dem Bach-Verein aufzuführen und auch zeitnah zu publizieren, zunächst im Jahr 1880 12 Deutsche Geistliche Volkslieder Op. 28; 1882 folgten weitere Zwölf Volkslieder aus dem 15., 16. und 17. Jahrhundert, Op. 35. Von diesen 24 Titeln sind 22 im «Böhme» belegt, der am Ende seiner Sammlung mit insgesamt 660 Liedern als «wichtigste Abtheilung des Volksgesangs» (S. 616) 150 «geistliche Volkslieder» platziert hat. Auch drei der vier Choralmotetten (Nr. 1, 3, 4) sind Titel aus dieser Abteilung. Herzogenberg wählte für diese «Choral»-Motetten also bewusst drei als «Volkslieder» auch ausserhalb der liturgischen Praxis bekannte und in zwei Fällen (Nr. 3 und 4) in beiden Konfessionen beheimatete Gesänge.

 

Die anspruchsvolle Form der Choralmotetten im  «gebundenen Stil» mit Vorimitation der einzelnen Choralzeilen und grösseren Fugato-Abschnitten (z.B. in Nr. 2 und Nr. 4) schliesst an die barocke Form des Choralvorspiels für Orgel an, welche Herzogenberg zu kompositorischen Studienzwecken pflegte. Als Op. 67 publizierte er später (1890) sechs solcher Choralvorspiele, eines davon (Nr. 5) ist eine direkte Orgelübertragung der Motette «Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn». Aus den biographischen Erinnerungen der englischen Komponistin Ethel Smyth (1858 – 1944), die als Leipziger Studentin seit 1878 bei Herzogenberg privat Kompositionsunterricht erhielt, geht hervor, dass solche Choralvorspiele mit strikter Bindung an einen Cantus firmus eine zentrale Form bei den von ihr verlangten kontrapunktischen Studien war.

 

Im einzelnen lässt sich zur Entstehung der vier Choralmotetten aus den nur spärlich erhaltenen Autographen und aus dem in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrten Briefverkehr Herzogenbergs mit seinem bereits 1875 nach Berlin übergesiedelten Freund Philipp Spitta folgendes eruieren:

 

- Im April 1878 erhielt Spitta eine erste Choralmotette zu mehreren Strophen des Liedes «Was frag ich nach der Welt», die nicht publiziert wurde und auch als Autograph nicht erhalten ist. Es ist anzunehmen, dass Herzogenberg durch Bachs gleichnamige Choralkantate BWV 94, veröffentlicht in der (von ihm subskribierten) Bachausgabe im Jahre 1875, auf diesen Choral gestossen wurde.

- Eine Sendung Herzogenbergs an Spitta vom 10. Februar 1880 enthielt eine zweite Motette, deren Titel im Briefverkehr nicht genannt wird. Einige Indizien – Spitta schreibt in seiner Replik von zwei Werkteilen und einer phrygischen Kadenz - sprechen dafür, dass es sich dabei um die in Op. 102 als Nr. 2 platzierte Motette handelte. Mit «Soll ich denn auch des Todes Weg und finstre Straßen reisen» und «Ich hab dich einen Augenblick, o liebes Kind, verlassen» verbindet sie zwei Liedstrophen Paul Gerhardts, die auf dieselbe Melodie gesungen werden («Was mein Gott will, das g`scheh allzeit», bei Böhme unter Nr. 640 ebenfalls als Volkslied geführt) und als Choralsatz jeweils in h-Moll zwei Bach-Kantaten beschliessen: BWV 92 (Choralkantate «Ich hab in Gottes Herz und Sinn») und BWV 103 «Ihr werdet weinen und heulen». Letztere hatte Herzogenberg mit dem Bach-Verein am 30. November 1879 zur Aufführung gebracht. So wäre diese offenbar bald danach vollendete Motette, obgleich als a-cappella-Werk einem anderen kompositorischen Medium zuzurechnen, direkt von der Beschäftigung mit Bachs Kantate(n) inspiriert. Spitta rühmt daran (Brief vom 15.2.1880): «Ich finde sie vortrefflich gearbeitet, die Stimmen scheinen mir noch glatter u. geschmeidiger zu fließen als in der ersten Motette ...»   

- Als dritte Motette schickte Herzogenberg im Oktober desselben Jahres eine Vertonung von Psalm 116 nach Berlin, wo kein Choralbezug vorliegt. Hier könnte Bachs Motette «Lobet den Herrn alle Heiden» über den in der Bibel benachbarten Psalm 117 Spiritus rector gewesen sein, denn diese war mit dem Bach-Verein bereits zweimal aufgeführt worden. Lediglich diese geistliche Motette Herzogenbergs («Das ist mir lieb») erschien zeitnah im Jahr 1882 als Op. 34 im Druck (Neuausgabe CV 23.312), nachdem sie im Mai 1881 mit dem Bach-Verein uraufgeführt worden war.

 

- Eine vierte Motette erreichte Spitta im Dezember 1881 zu Weihnachten (als Reinschrift-Autograph mit Datierung 12.-17.12.1881 in der Staatsbibliothek zu Berlin erhalten), ein in drei Teilen gross angelegtes Werk. Es beginnt mit der vierstimmigen Vertonung der ersten Strophe von «Mitten wir im Leben sind» und lässt zwei doppelchörige Werkteile auf andere Textvorlagen folgen. Der zweite Teil wurde später zur Motette Op. 103,3 (Dialog zwischen leidenden und verklärten Seelen) umgearbeitet, der dritte Teil, eine grandiose Fuge über «denn du allein hilfst mir, dass ich sicher wohne!» (Psalm 4,9) fand keine weitere Verwendung. Die in Op. 102 als Nr. 4 präsentierte Fassung von «Mitten wir im Leben sind» stellt eine namentlich hinsichtlich Dynamik und Textverteilung erheblich überarbeitete Fassung des Weihnachtsgeschenks von 1881 dar. Herzogenberg benutzt hier allerdings eine Melodievariante, die von der bei Böhme (Nr. 648) wiedergegebenen Fassung aus Johann Walters Chorgesangbuch (1524) abweicht. 

 

- Von der Motette «Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn» (Op. 102, 1) ist in der städtischen Musikbibliothek Leipzig ein nicht datiertes Autograph erhalten, das durch zahlreiche spezifische Korrekturen als Erstschrift zu identifizieren ist. In den Annalen des Bach-Vereins ist eine Aufführung dieser Motette am 11. Mai 1884 belegt. Die Druckversion der Motette (1898) weist ebenfalls ein hohes Mass an Umarbeitung auf, so dass jenes Autograph als Vorlage für den Neudruck ausscheidet. Die 1890 publizierte Orgelfassung ist eindeutig von der Chorfassung abhängig und zwar von der im Autograph greifbaren Frühfassung, so dass der Erstdruck wohl auf einer ad hoc vorgenommenen Revision in den späteren 1890er-Jahren fusst. Im Leipziger Autograph ist ein hymnologischer Nachweis eingetragen, «bei Joh. Ott, 1534», der wörtlich dem Altdeutschen Liederbuch Böhmes entnommen ist (Nr. 636, S. 745). Die Fassung des Choraltextes entspricht wörtlich der bei Böhme überlieferten, beim im Tenor geführten Cantus firmus erlaubt sich Herzogenberg rhythmische Veränderungen gegenüber der Vorlage.

 

- Keinerlei Spuren gibt es bisher zur Entstehung der Motette Op. 102,3 «O Traurigkeit, o Herzeleid». Formal und Stilistisch offensichtlich ein Schwesterwerk zu «Mitten wir im Leben sind», wird sie im selben Zeitraum (1881/ 82) entstanden sein. Gegenüber der bei Böhme (Nr. 550) wiedergegebenen Fassung gibt es Varianten in Text wie Melodie. Für den mit beiden Konfessionen vertrauten Komponisten - seine Gattin Elisabeth, geb. von Stockhausen, war evangelisch – könnte wichtig geworden sein, was Böhme im Kommentar (S. 658) über den Weg dieses Liedes vom «Kathol. Processionsgesang am Charfreitag» zum evangelischen Kirchenlied geschrieben hat. 

 

Im Gegensatz zu den Chorliedern Op. 28 und 35 hielt Herzogenberg diese Motetten vorerst zurück, obgleich sein Freund Spitta, dessen Rat er sonst stets befolgte, namentlich seit dem Weihnachtsgeschenk 1881 zur Publikation drängte. Offensichtlich erkannte der Chorleiter Herzogenberg, dass es noch zu wenig Chöre gab, die einem solch strengen Motettenstil geneigt waren. 15 bis 20 Jahre später hatte sich die Chorlandschaft durch die Gründung von Kirchengesangvereinen wesentlich verändert. Zudem hatte in den dazwischen liegenden Jahren die persönliche Lebenserfahrung des Ehepaares der von Herzogenbergs die geistliche Dimension dieser Werke in ihrer Relevanz verstärkt. Während einer langwierigen Krankheit ihres Mannes zitiert Elisabeth von Herzogenberg am 7. Oktober 1887 in einem Brief an Philipp Spitta wohl auswendig, weil fehlerhaft, die zweite Strophe der Paul-Gerhardt-Motette Op. 102, 2 und kommentiert:

«Wie oft mir das liebe Lied einfällt, wenn ich das arme Dulderantlitz meines Mannes betrachte, und wie ich mir wünsche, daß es auch bald auf ihn passe.»

Nachdem Elisabeth von Herzogenberg erst 44-jährig am 7. Januar 1892 einem lebenslang bestimmenden Herzleiden erlegen war, komponierte der Witwer in den letzten Wochen des Trauerjahres eine gross besetzte Kantate Todtenfeier. Am Heiligen Abend des Jahres 1892, den Herzogenberg  ganz allein in Berlin verbrachte, schuf er für diese Kantate eine weitere Vertonung dieses «lieben Liedes» (ebenfalls mit fehlerhafter, offensichtlich auswendig eingetragener Textfassung). Gerade in der direkten Konfrontation mit dem Tod wurden seine Worte offenbar erst recht als «passend» empfunden: «Dein kurzes Leid soll sich in Freud und ewig Wohl verkehren."   

Alle vier Choralmotetten sprechen Leid- und Todeserfahrungen an. Für Heinrich von Herzogenberg hatten sich die früheren Kompositionsstudien im strengen Stil mit diesen «altdeutschen» geistlichen Liedern im Lauf der Jahre als Sprachformen zur Bewältigung von persönlichem Leid bewährt. Solchermassen drängten sie im Jahre 1898 gleichsam an die Öffentlichkeit.

 

Die vorliegende Neuausgabe folgt im Notentext der Fassung des Erstdrucks. Auch die unterlegten Choraltexte entsprechen dem Erstdruck und wurden lediglich in der Orthographie modernisiert. Heute gebräuchliche, in der Regel inzwischen als ursprünglicher nachgewiesene Wortvarianten sind in Kursivschrift ergänzt.

 

Ein Hinweis zur chorischen Ausführung: Herzogenberg war dem Leitbild eines ruhigen polyphonen Flusses der Chorstimmen verpflichtet. Die Tempi sind demgemäss eher langsam zu wählen, ein dichtes Legato der Stimmführung ist anzustreben. Da der Komponist hinsichtlich der Chorstärke wohl eher einen stattlich besetzten gemischten Chor vor Augen hatte, können auch grössere Chöre diese Motetten als Schulung im reinen a-cappella-Gesang nutzen. - Der Leipziger Bach-Verein zählte in seinem 25. Jubiläumsjahr 1899 als eingetragene aktive Mitglieder 70 Damen und 31 Herren.

 

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