Herzogenberg und Heiden
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AGG Appenzellische Gemeinnützige Gesellschaft
Beitrag in «Appenzellische Jahrbücher 2003»

 

Konrad Klek
Der Komponist Heinrich von Herzogenberg und sein Haus „Abendroth“ in Heiden mehr als eine Episode
 

Die Kapitel:
Das tote Haus am Bodensee

Der 2. Juli 2000: Eröffnungsakt des Herzogenberg-Zyklus

Wie ein Berliner Kompositionsprofessor nach Heiden kommt

Herzogenberg in Heiden - Eine Chronologie der Zuneigung:
1891 - 1892 - 1893 - 1894 - 1895 - 1896 - 1897 - 1898 - 1899 - 1900

Lenz muss doch wieder kommen - und alles auferstehn
Entwicklungen nach 2004: Internationale Herzogenberg-Gesellschaft oder: Zum Alltag im Verein


Am Ende des 19. Jahrhunderts führte für weniger als ein Jahrzehnt der Lebensweg des Komponisten Heinrich von Herzogenberg (1843–1900) in das Appenzeller Land, nach Heiden. In historischen Dimensionen betrachtet wird das nur als Episode gelten können. Im traumhaft schön gelegenen Haus Abendroth hinterließ diese Episode gleichwohl einen Fixpunkt, der ein Jahrhundert später zum Ausgangspunkt wurde für eine bemerkenswerte Renaissance des fast vergessenen Künstlers und seiner Musik und dem Ort Heiden eine neue Lokalgröße bescherte.


«Das tote Haus am Bodensee». Fast hundert Jahre lang stand es geheimnisvoll mit geschlossenen Läder, bis im Jahre 2000 mit den ersten Herzogenberg-Konzerttagen sich der Schleier zu lüften begann.
Das tote Haus am Bodensee
Der Heidener Hotelier Andres Stehli stieß im Jahre 1996 auf eine „Reiseerinnerung“ des deutschen Dramatikers Ernst von Wildenbruch, die im Oktoberheft 1902 der Deutschen Rundschau erschienen war, einem Monatsblatt, das seinerzeit zur Standardlektüre von deutschen Bildungsbürgern gehörte. Unter dem Titel Das tote Haus am Bodensee berichtete Wildenbruch da, eingepackt in ein ausführliches Lamento ob der Realpräsenz des Todes in Natur und menschlichen Beziehungen, über seinen Besuch in einem verlassenen Haus in Heiden, das Heinrich von Herzogenberg 1891/92 hatte erbauen lassen und bis zu seinem Tod im Jahre 1900 als Sommerresidenz bewohnte. Wildenbruch war zu Lebzeiten Herzogenbergs der Einladung zum Besuch nicht gefolgt und kam nun, im Sommer 1902, zwei Jahre zu spät. Während eines Gewitters tappte er im Dunkeln durch die unveränderten, aber menschenleeren Räume des feinsinnig nach Plänen des Hausherrn gestalteten Holzhauses und vermengte diese Eindrücke dann in seiner alsbald verfassten Schrift mit nicht sehr präzisem Wissen über das persönliche Geschick Herzogenbergs und zeichnete so von dieser Künstlerexistenz das bedauernswerte Bild einer „Tragödie“. Das „tote Haus“ schien ihm symbolträchtig für das ganze Leben Heinrich von Herzogenbergs.

Für Andres Stehli lüftete sich mit dem Wildenbruch-Text ein Geheimnis. Das „tote Haus“, sozusagen richtig romantisch am Waldparkrand mit Blick auf den Bodensee gelegen, war tatsächlich über das ganze Jahrhundert hinweg ein totes Haus geblieben. Selten nur waren die Fensterläden geöffnet, und kaum jemand in Heiden wusste etwas über die Besitzer, geschweige denn über den Erbauer. Seit Jahrzehnten war es im Besitz von Auslandschweizern, die auf Mallorca lebten und nur gelegentlich ein paar Tage oder Wochen in Heiden verbrachten. Jetzt hatten sie das Haus modernisiert und dem mit seiner Pension Nord in der Nachbarschaft residierenden Andres Stehli ein altes Klavier daraus geschenkt: Blüthner - Leipzig, 1897, nicht von schlechten Eltern ... Eröffnungs-Veranstaltung vor dem geheimnisvollen «Abendroth»: Am 2. Juli 2000 öffneten sich vor zahlreichen Gästen die Läden des Hauses.

Erste Erkundigungen über Heinrich von Herzogenberg, der in den gängigen Musiklexika durchaus verzeichnet ist, brachten Stehli weiter und machten neugierig auf diesen Künstler, der zumindest als Mitglied des engeren Freundeskreises um Johannes Brahms Interesse beanspruchen konnte. Im Juni 1997 entschlüsselte Stehli mit einem kleinen Beitrag im Heidener Mitteilungsblatt aufwind auch für die Mitbürger das Geheimnis des „toten Hauses“. Diesem Fingerzeig auf das Haus als Repräsentant einer „kurzen, glanzvollen Zeit unserer Ortsgeschichte“ folgten, ermöglicht durch den auf glückliche Umstände zustande gekommenen Kontakt mit Herzogenberg-Forschern in Deutschland, umfangreiche Recherchen und Planungen für eine auf das 100. Todesjahr zu terminierende Herzogenberg-Renaissance in Heiden. (zum Anfang)

Am 2. Juli 2000, beim Eröffnungsakt des Herzogenberg-Zyklus 2000, öffneten sich (stimmungsvoll bei einem wie abgesprochenen Abendrot am Westhimmel) denn auch demonstrativ vor den Augen Hunderter die Fensterläden des Hauses „Abendrot“ – wie es als Name gemäß der ursprünglichen Benennung am Hausgiebel immer noch zu lesen war. Aus dem „toten Haus“ tönte nun Musik seines Erbauers. Es war ins Leben zurückgekehrt. Seither steht in Heiden nicht nur ein Wegweiser „Zur Villa Abendrot“ am Abzweig zur Nordstraße, es weiß nun auch wirklich jedes Kind, dass es in Heiden neben Henry Dunant noch einen weiteren eigentlich großen Namen gibt. Heinrich von Herzogenberg ist als Pfund entdeckt, mit dem die Gemeinde Heiden wuchern kann, eine unfangreich mit Informationen zu Leben und Werk bestückte homepage „Herzogenberg und Heiden“ (www.herzogenberg.ch) dient als Anlaufstelle für Herzogenberg-Interessierte aus aller Welt. Weitere Herzogenberg-Tage in den Jahren 2001, 2002 und 2004 sind erfolgreich über die Bühne gegangen. Am 3. April 2004 wurde mit gut 80 Gründungsmitgliedern die Internationale Herzogenberg-Gesellschaft mit Sitz in Heiden konstitutiert. Im Mai 2005 werden die Herzogenberg-Tage erstmals in das Bodenseefestival integriert. (zum Anfang)

 

Heinrich von Herzogenberg –
Daten eines unspektakulären, aber respektablen Künstlerlebens
10. Juni 1843 Geboren in Graz als Sprössling eines ehemals französischen Adelsgeschlechtes, das seit der Revolution in Österreich Aufnahme gefunden hatte
ab 1862 Musik- und Jurastudium in Wien, hier erster Kontakt mit Johannes Brahms
1868 Eheschließung mit Elisabeth von Stockhausen und Übersiedlung in die Heimatstadt Graz, dort erfolgreiches Wirken im Rahmen der örtlichen Musikinstitutionen mit Uraufführungen eigener Großwerke, z.B. Columbus – dramatische Cantate op. 11, Deutsches Liederspiel op. 14, Odysseus – Symphonie für großes Orchester op. 16
1872 Übersiedlung nach Leipzig, hier künstlerische Neuorientierung an der klassischen Tradition, Kompositionen jetzt verstärkt auf dem Gebiet der Kammermusik und des Kunstliedes
 
1874 Erstmals Brahms-Tage in Leipzig, bei denen ein lebenslanger freundschaftlicher Austausch des Ehepaares von Herzogenberg mit Brahms begründet wird
1875 Gründung des Bach-Vereins (Chor zur Aufführung von Kantaten Joh. Seb. Bachs) zusammen u.a. mit Philipp Spitta, ab Herbst 1875 Leitung dieses Chores und in der Folgezeit reger Kontakt mit dem inzwischen an der Berliner Musikhochschule tätigen Bach-Biographen Spitta
1884 Symphonie c-Moll op. 50, Verhandlungen wegen einer Kompositionsprofessur an der Berliner Musikhochschule, deren Direktor Joseph Joachim war
1885 Berufung nach Berlin
1886 Psalm 94 für Doppelchor, Soli und Orchester op. 60
1887 Sistierung der Berliner Ämter wegen einer schweren Arthritis, welche die Resektion der rechten Kniescheibe erzwingt
1889  Nach Rekonvaleszenzaufenthalt in Nizza (u.a. Symphonie B-Dur op. 70) Rückkehr nach Berlin zum Herbst, jetzt auch als Herausgeber von Werken älterer Meister tätig
1890 Aufnahme in die Preußische Akademie der Künste, Königs-Psalm op. 71, Requiem op. 72
1891 Die Herzkrankheit der Gattin Elisabeth bedingt eine Sommerkur im hessischen Bad Nauheim, anschließend erster Heiden-Aufenthalt mit Spontan-Entschluss zum Hausbau. Im Herbst gibt Herzogenberg abermals die Berliner Ämter preis, um seine Gattin zum Überwintern nach Italien begleiten zu können.
7. Januar 1892 Elisabeth von Herzogenberg stirbt 44-jährig in San Remo und wird dort bestattet. (Das Grabmal von Adolf von Hildebrand ist erhalten.) Im Sommer vollendet Herzogenberg den Bau des Hauses Abendroth in Heiden, das er fortan in den Sommermonaten als gastoffenes „Freundeshotel“ führt. Helene Hauptmann (Tochter des Leipziger Thomaskantors Moritz Hauptmann) übernimmt die Haushaltsführung.
Herbst 1892 Herzogenberg kehrt nach Berlin zurück und kann sukzessive (bis 1897) seine zwischenzeitlich anderweitig besetzten Stellungen an der Hochschule wieder einnehmen. Mit der Übernahme der Musikalischen Gesellschaft wird er auch wieder als Chorleiter aktiv. Über Weihnachten 1892 komponiert er zum ersten Todestag seiner Frau die chorsymphonisch besetzte Todtenfeier op. 80 auf Bibelworte und Choralstrophen.
Sommer 1893 Das erste Zusammentreffen mit dem Straßburger Theologen Friedrich Spitta in Heiden führt zu einer verstärkten Kompositionstätigkeit auf dem Gebiet der evangelischen Kirchenmusik, obgleich Herzogenberg katholisch ist (und bleibt). Friedrich Spitta gehört ab jetzt regelmäßig zu den sommerlichen Heiden-Besuchern.
13. April 1894 Plötzlicher Tod des Intimus Philipp Spitta in Berlin.
Herbst 1898 Infolge einer hartnäckigen Erkältung bricht die Arthritis wieder aus
1899 Kuraufenthalte, u.a. in Wiesbaden, von wo aus Herzogenberg zur Uraufführung seines opus maximum Erntefeier op. 104 in Straßburg am 10. Juli reist. Im September letzter Aufenthalt in Heiden. Ohne Aussicht auf Heilung reicht er in Berlin sein Emeritierungsgesuch ein.
1900 Nach einem unfreundlichen Winteraufenthalt in Nervi zieht Herzogenberg bleibend nach Wiesbaden
9. Oktober 1900 Tod Heinrich von Herzogenbergs, Bestattung auf dem Wiesbadener Nordfriedhof
28. September 1902 Einweihung des ebenfalls erhaltenen, von Adolf von Hildebrand gefertigten Grabmals

Wie ein Berliner Kompositionsprofessor nach Heiden kommt
Im 19. Jahrhundert pflegte nicht nur die „bessere Gesellschaft“ dem Großstadtgestank und – lärm (Pferdegetrappel!) durch längere Aufenthalte in der „Sommerfrische“ zu entfliehen, gerade auch Künstler zogen sich für längere kreative Arbeitsphasen in die Natur der Berge zurück. „Wohin gehen Sie diesen Sommer?“ ist eine Standardfrage in Mai-Briefen etwa der Künstler im Freundesumfeld von Johannes Brahms, wozu neben Clara Schumann eben auch die Herzogenbergs gehörten. Die Hingabe an schöpferische Tätigkeit im Sommer schloss nicht aus, sondern wurde gekrönt dadurch, dass man in diesen Zeiten geistesverwandte, sonst weitab wohnende Freunde empfing, mit ihnen plauderte, musizierte und ihnen neue Werke vorstellte.

Das Ehepaar Herzogenberg hatte sich am Königssee bei Berchtesgaden ein Haus für solche Sommerfrische gebaut, das der Hobby-Architekt Herzogenberg als Reverenz an seine Frau Elisabeth (in Anspielung auf die Loreley am Rhein) Liseley getauft hatte. Ende der 1880er-Jahre musste dieses Haus aufgegeben werden, da die Krankheiten beider Ehepartner einen Aufenthalt dort verwehrten und die Behandlungskosten eine Finanzierungslücke aufrissen. Zu Beginn des Jahres 1891 verschlechterte sich der Gesundheitszustand der schon jahrelang mit Herzproblemen belasteten Elisabeth von Herzogenberg, das Berliner Klima erschien zusehends abträglich, die Suche nach einem klimatisch günstigen Ort wurde dringlich.

Heiden, durch die Bergbahn seit 1875 für modernen Tourismus erschlossen, war in Berlin als Urlaubsadresse bekannt: Es fuhr sogar ein Kurswagen, der es der „feinen Gesellschaft“ aus der deutschen Hauptstadt ermöglichte, ohne lästiges Umsteigen nach Heiden zu gelangen, um hier mit entspannendem Blick auf den Bodensee und ohne die für Flachlandbewohner ungünstigen extremen Lebensbedingungen des Hochgebirges Bergluft und –sicht zu genießen. Die mit den Herzogenbergs eng befreundete Familie des Berliner Musikologen Philipp Spitta war schon früher in Heiden gewesen und gab wohl den Tipp.

Dass Heinrich von Herzogenberg in Heiden um der Gesundheit seiner Frau willen eine Bleibe suchte, ist signifikant für dieses geradezu ideale, kinderlos gebliebene Ehepaar. Gegenseitige Anregung in künstlerischen Dingen – Elisabeth, als Heranwachsende in Wien auch kurzzeitig Klavierschülerin von Brahms, war eine begnadete Pianistin mit hoher musikalischer Auffassungsgabe – und aufopferungsvolle Fürsorge für den Partner entsprachen sich. Auch außenstehende nahmen „die Herzogenbergs“ als sich gegenseitig inspirierendes Künstlerpaar wahr, wo „einer als das Product vom andern“ gelten konnte, wie Herzogenberg selbst es einmal formulierte. In der gemeinsamen Bewältigung von Krankheiten erschienen sie anderen wie „merkwürdig ideale Menschen, die es beinahe verstehen, dem Unglück noch schöne Seiten abzugewinnen“. Sogar die im Zeitkontext sehr ungewöhnliche Preisgabe von Ämtern auf seiten des Mannes zugunsten der Fürsorge für die Frau wurde zum Zeichen solch idealer Partnerschaft. Es ist schon tragisch, dass das gemeinsam mit und für Elisabeth und deren verwitwete Mutter konzipierte (und finanzierte) Haus in Heiden von Herzogenberg dann ganz alleine als Witwer bezogen werden musste. – Wenige Tage vor Elisabeth war auch ihre Mutter verstorben. Aber auch diesem „Unglück“ wusste Herzogenberg „schöne Seiten“ abzugewinnen, sehr schöne sogar, denn das Kapitel Abendroth in Heiden wurde zu einem höchst ersprießlichen Lebensabschnitt, was die folgende Chronologie belegt. (zum Anfang)


Herzogenberg in Heiden – Chronologie einer Zuneigung


1891

„Was sagst Du zu unserem Plane, nach Heiden zu gehen? Ich brauche noch eine offene Gegend mit freiem Umblick …“ Diese Ankündigung in einem Brief Herzogenbergs an Philipp Spitta vom 16. Juli aus Bad Nauheim ist die erste Heiden-Spur in der Vita der Herzogenbergs. Mit Datum vom 3. August erfährt der Freund und „Chef“ Joseph Joachim, einer der berühmtesten Geiger der Zeit und seinerseits ein alter Brahms-Freund: „Die Stählung der Nerven erwarten wir nun von dem mäßig-hohen, trockenen Klima von Heiden, das schon so Manchem gute Dienste erwiesen hat. Nach dieser feuchten Mulde hier wird uns der unendliche Horizont wohlthuen; auch wird es eine Erlösung sein, die feinen süßlichen Park-Ansichten hier mit kräftigen Matten und Tannenwäldchen zu vertauschen und den lieben Gott wieder mal unverfälscht zu genießen.“ Keine zwei Wochen später, am 15. August, kann Herzogenberg den Spittas berichten: „Ich sitze auf dem bekannten Balcon der Schweizerhof-Dependance bei strahlendstem Wetter aber in kühler leichter Luft, und schaue eben nach Deutschland hinüber, das so einfach und verständlich mit dem schwäbischen Meere abschließt, wie etwa der Rand der Erdscheibe zu denken war. …Ihr wißt, wie schön es hier ist - daher verkneife ich mir jede Dithrambe! ... Meiner Frau scheint die Luft sehr gut zu bekommen; man athmet hier wirklich bis in die Fußspitzen hinunter, und hat gar kein spezifisches Gewicht mehr.“ Und schon am 5. September ist die Überraschung für Spitta perfekt: „Lieber Freund! Ich hab mal wieder die Feder mit der Mauerkelle vertauscht: wir bauen ein hölzernes Bauernhäuschen dicht am ´3 Länderblick`! Heute kann man schon in die Löcher für die Fundamente hinabgucken.“ Das neu errungene „Vollgefühl des Lebens und Wohlseins“ und die Faszination Heiden führen zur Spontanaktion Hausbau, was fast so kühn erscheint wie Luthers berühmtes Apfelbaumpflanzen am Vorabend des Weltuntergangs. Aber schon am 1. Oktober ist es aus mit dem „Vollgefühl“. Elisabeth hat einen Rückfall erlitten. Die Herzogenbergs sind auf dem Weg nach Straubing zu einem Heilaufenthalt, wo dann die Entscheidung fällt, den Winter in San Remo zu verbringen und die Beamtenstellung in Berlin aufzugeben.

1892
Herzogenberg hat sich nach dem Tod seiner Frau (7.Januar) einige Zeit, kompositorisch durchaus aktiv, in Florenz aufgehalten und kommt von da nach Heiden in das neue Haus, um die Durchführung der letzten Bauarbeiten zu überwachen. „Wie schwer mir der Anfang hier war,“ gesteht er Clara Schumann am 14. Juni, „kann ich gar nicht sagen; dabei erfüllte mich aber die unbeschreibliche Lieblichkeit der Lage und die rührende Herzigkeit des Hauses mit innigen Hoffnungen auf die Zukunft meines Lebens.“ Zusammen mit Helene Hauptmann, die nun „ganz von freien Stücken gern und für immer die freundliche Wirthin zum Abendroth sein und bleiben will“, malt er ein Namensschild für das Haus, auf dem alle drei Bauherren, respektive -damen mit ihren Initialen eingraviert werden. „… unter`s Dach kommt / Zum Abendroth / 18 C.v.St. E.v.H. H.v.H. 91“. Der Name entspricht nicht nur der Abendrot-zugewandten Lage, sondern nimmt tiefsinnig Bezug auf das Gedicht Im Abendroth des Lieblingsdichters Eichendorff, das Herzogenberg in früheren Jahren bereits als Duett vertont hatte. Obgleich selbst noch keine 50 Jahre alt, sieht er die Abend-Phase seines Lebens angebrochen und schreibt über die Tür als Pendant das Bibelwort „Bleib bei uns,/ denn es will Abend werden,/ und der Tag/ hat sich geneiget.“
Doch solche Abendstimmung schließt Zukunftshoffnung und Lebensfreude nicht aus. Sichtlich fasziniert von den neuen Perspektiven im an Gästezimmern reichen Gebäude, schreibt er detailliert seinen Berliner Spittas vom Nutzungskonzept „Freundeshotel“ und freut sich auf die bevorstehenden gemeinsamen Wochen mit der „Bande“ (Familie Spitta), welche aber nicht die einzigen Gäste bleiben. Als musikalische Frucht dieses ersten Heidener Sommers lässt sich zumindest die dritte Violinsonate op. 78, vollendet am 6. Juli, dingfest machen, welche dann im September mit Stargast Joseph Joachim an Ort und Stelle studiert wird. Auch mit Appenzeller Kulturschaffenden sucht Herzogenberg den Kontakt. Im Nachlass von Alfred Tobler findet sich, datiert „10. Sept. 92“, folgende reizende Einladung aus dem Abendroth: „Sehr geehrter Herr! Würden Sie mir und meinen lieben Gästen die Freude machen, nächsten Montag mit einbrechender Dunkelheit bei mir zu erscheinen? Und zwar bewaffnet mit Musikalien? Es wäre gar schön, und machte einen angenehmen Schlussaccord für diesen Sommer! Ergebenst Ihr H.v.Herzogenberg".

1893
Herzogenberg will jetzt jedes Jahr zumindest ab seinem Geburtstag am 10. Juni bis September in Heiden leben, Freunde beherbergen und „arbeiten“, also komponieren. Das ist oft immer noch Trauerarbeit über den Verlust der Gattin, etwa im Medium von Liedern zu Eichendorff-Texten, die dann als Elegische Gesänge veröffentlicht werden. Philipp Spitta, wiederum mit Familie im „Freundeshotel“ einquartiert, vermittelt ihm jetzt als neuen Gast seinen um einiges jüngeren Bruder Friedrich, Theologieprofessor zu Straßburg und leidenschaftlicher Vorkämpfer für lebendige Liturgie via Kirchenmusik. Ihm schreibt Herzogenberg post festum am 11. September: „Wir zehren noch von den schönen lustigen Tagen mit Ihnen und hoffen für’s nächste Jahr auf ein Da capo!“ Dem Brief beigegeben ist eine für ihn neuartige Arbeit, die der Straßburger Gast in Auftrag gegeben hatte: die Liturgischen Gesänge op. 81/1, der komplette Bedarf an (a-cappella-) Chormusik für einen Adventsgottesdienst nach Textvorgaben Spittas. „Ich hatte solche Freude bei dieser Arbeit und lechze nach mehr“, bekennt der Komponist. Das Mehr kommt in Textvorlagen für einen Passions- und einen Epiphaniasgottesdienst. Friedrich Spitta leitet selbst den Akademischen Kirchenchor, der die von ihm eingerichteten Akademischen Gottesdienste in Straßburg, St. Thomas, ausgestaltet. Am 25. Februar des Folgejahres erlebt Herzogenberg selbst in Straßburg den Gottesdienst mit seinen Passionsgesängen. Er ist ziemlich glückselig und bietet seinem neuen Freund Friedrich Spitta das Du an ...

1894
In diesem Sommer muss Herzogenberg förmlich nach Heiden fliehen: Am 13. April ist Philipp Spitta 52-jährig einem Herzschlag erlegen. Herzogenberg hält es in Berlin nicht mehr aus, reist ab so früh es geht, Ende Mai. Auch jetzt zeigt er sich in seiner Trauerarbeit äußerst produktiv. Eine große, dem Gedenken Spittas gewidmete Missa solemnis hat er schon begonnen und vollendet sie Mitte Juli in Heiden. Kaum ist die Messe fertig, kommt Friedrich Spitta ins Abendroth, nun auch an seines Bruders Stelle tretend. Das „da capo“ sieht also ganz anders aus als erhofft, gerät gleichwohl nicht unlustig, wie ein späterer Bericht Spittas über diese Tage zeigt. Es wird gewandert, in Wirtschaften eingekehrt, musiziert und disputiert und dabei das Projekt Kirchenoratorium ausgeheckt: ein künstlerisch und geistlich gehaltvolles, aber „mit einfachsten Mitteln“ zu realisierendes, abendfüllendes Werk, das mit der Integration von Gemeindegesang die Trennung von Konzertierenden und Publikum in ein Gemeinschaftserlebnis hinein überwinden soll. Spitta entwirft sozusagen in Urlaubslaune das Textbuch zum Weihnachtsoratorium Die Geburt Christi. Mitte August reist er wieder ab, und Herzogenberg komponiert nun mit Feuereifer in wenigen Wochen sein Opus 90. „Fertig!“ beginnt die Postkarte, mit der er am 19. September ankündigt, Ende des Monats von Heiden nach Straßburg zur Bescherung zu kommen. „Wir machen aber noch viel mehr Oratorien zusammen!“ heißt da der letzte Satz. Die Straßburger Uraufführung am 3. Advent mit Spitta als Tenor-Evangelisten dirigiert Herzogenberg selbst. Er erlebt dies als „das schönste Capitel meines Lebens“.

1895
Auf dem Anweg nach Heiden ereilt Herzogenberg in seiner Heimatstadt Graz eine Augenentzündung, die ihn mehrere Wochen dort festhält, so dass er erst im Hochsommer seine Schweizer Wahlheimat erreicht. Von da sendet er Johannes Brahms in dessen „Sommerfrische“ nach Ischl die eben im Druck erschienenen Elegischen Gesänge und das Weihnachtsoratorium zu und versucht – vergeblich – ihn zu einem Abstecher nach Heiden zu bewegen. Friedrich Spitta kommt erst am 1. September. Im Reisegepäck hat er die intensiv durchdachte Konzeption von Kirchenoratorium Nr. 2 Die Passion. Herzogenberg beginnt noch in Heiden mit der Arbeit an seinem op. 93, hat daran aber bedeutend schwerer zu kauen als am Weihnachtsoratorium. Zur Entspannung wendet er sich zwischendurch der Kammermusik zu. Am 29.2.1896 schließlich ist die Passion fertig: „Ich weiß nun gar nichts mehr mit mir anzufangen“, meldet er nach Straßburg, wo dann am 22. März unter Spittas Leitung der erste (Gründonnerstags-)Teil zur Uraufführung kommt. Herzogenberg ist diesmal passiv Ohren- und Augenzeuge und bedankt sich am 27. März für die ihm zuteil gewordene Wertschätzung mit den Worten: „Die Nachwelt wird`s ja wohl offenbaren, daß Ihr`s ein bißchen übertreibt mit mir; es thut aber so wohl, und bringt wenigstens Alles heraus was etwa in mir steckt. Also: vergelt`s Gott.“

1896
Im April hat Friedrich Spitta zusammen mit dem Freund und Kollegen Julius Smend die Monatschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst gegründet, das bald führende Organ für liturgische Fragen in Deutschland. Herzogenberg lässt sich als Mitarbeiter einspannen nicht nur für die Komposition von einfacheren Chorsätzen als Musik-Beilagen, sondern auch schriftstellerisch für eine Grundsatzdiskussion „um das Wesen kirchlicher Musik“, wo er argumentativ glänzend einen modern liberalen Standpunkt vertritt. Aus Heiden lässt er den viel beschäftigten Straßburger am 23. Juli jedoch wissen: „Ich hungre nach Texten und nach Deinem Anblick.“ Spitta schickt ihm als Ersatz für sein vorerst ausbleibendes Erscheinen Arbeitsaufträge, das Genfer Psalmlied „Wie lieblich schön, Herr Zebaoth“ und das sogenannte Kapeller Lied Zwinglis, wofür der Freund alsbald – sozusagen in authentischer Schweizer Luft – vierstimmige Chorsätze schreibt. Ansonsten sieht er sich neben lästigen Korrekturenarbeiten für die Drucklegung der Passion gezwungen, „allerhand unnützes Zeug“ zu treiben, also weltliche poetische Texte zu vertonen. Er versucht auch, den Theologen mit der Aussicht auf „Neues von Brahms“ nach Heiden zu locken. Gemeint sind die soeben erschienenen Vier ernsten Gesänge, welche Brahms, begleitet von einem durchaus ungewöhnlichen Briefwechsel, ins Heidener Abendroth hat senden lassen, von wo aus sie sogleich begeistert kommentiert werden. Am Medium dieser in der (biblischen) Textwahl sehr provokanten Gesänge führen Brahms und Herzogenberg einen Schlagabtausch über den Sinn der Vertonung geistlicher Texte, der aber letztlich zum Einverständnis führt, insofern Herzogenberg in Brahms´ Werk die implizite Reverenz auf die von beiden geliebte Tote, Elisabeth von Herzogenberg, erkennt und akzeptiert. - Als Ende August Friedrich Spitta schließlich nach Heiden findet, bringt er die ersehnten „Texte“ als inhaltliches Schwergewicht mit. Es ist das hinsichtlich der theologischen Durchdringung gegenüber der Passion nochmals gesteigerte Libretto von Kirchenoratorium Nr. 3 Erntefeier, eine groß angelegte Reflexion über Geschenk, moralische Verpflichtung und (transzendente) Zukunftsperspektive des Lebens. Da muss der gewissenhafte Architektoniker Herzogenberg sich erstmal ausgiebig Planungszeit nehmen. In seinem Weihnachtsbrief (20.12.) meldet er in typisch süffisanter Diktion: „Unsere Erndtefeier feiert noch; vielleicht will ich’s gar zu gut haben, drum genügt mir nichts; habe inzwischen auch allerlei Andres geschrieben, bin aber ‚wenig froh‘“.

1897
Am Todestag von Johannes Brahms (Sonntag Judika, 3. April) dirigiert Herzogenberg in der Berliner Marienkirche die erste Gesamtaufführung seiner Passion. Zwei Tage später bricht er zur Beerdigung nach Wien auf. In bewegenden Briefen an Freunde versucht er, den Verlust dieser geradezu ideellen Bezugsperson zu verarbeiten: „Welch ein Abgrund ist die Zukunft!“ (5.4.) In Straßburg leitet wenig später Ernst Münch eine Passion-Gesamtaufführung mit Spitta als Evangelist. Herzogenberg ist da und trifft den extra angereisten Amsterdamer Freund Julius Röntgen, der 1894 als einer der ersten Herzogenbergs neue Messe im Heidener Abendroth hat bewundern können und dann im Dezember 1895 in Amsterdam auch zur Aufführung gebracht hat. Mit der Erntefeier will es – zurück in Berlin - nicht recht weiter gehen. Mitte Juni trifft Herzogenberg in seinem Heidener Refugium ein. Im Gepäck hat er seine Geburtstagspost, darunter von Spitta als „seltsames Angebinde“ Melodie und Text des Liedes Gott ist gegenwärtig, verbunden mit der Bitte, zum 200. Geburtstag des Dichters Gerhard Tersteegen im November eine Choralkantate zu schreiben. Nach anfänglichem Zögern wegen der Melodie „von geringem Ausdruck“ gelingt Herzogenberg in Heiden wieder einmal etwas aus einem Guss: vom 20. Juni bis 15. Juli entsteht in bestem Sinne erbauliche, erhebende, feinsinnig die Liedtexte umsetzende Musik für vierstimmigen Chor mit kleinerem Orchester und reichlich Gemeindebeteiligung in vier der acht Strophen. Als Spitta Ende August wieder nach Heiden kommt, empfängt ihn die fertige Partitur-Reinschrift. Überhaupt erleben beide die gemeinsamen Tage dieses Sommers als Zeit besonderen Glücks, und Herzogenberg gelingt jetzt auch wieder der Schwenk zum opus magnum Erntefeier. - Am Totensonntag, 21. November, läuft dann Gott ist gegenwärtig in Straßburg vom Stapel. Der Komponist meldet am selben Tage per Postkarte aus Berlin: „Gern hätte ich zwei Flügel, oder wenigstens telephonischen Anschluss für heut Abend.“

1898
Die ganze erste Jahreshälfte über bleibt die Erntefeier Herzogenbergs Hauptbeschäftigung in Berlin neben den beruflichen Pflichten. Die Sommer-Fahrt nach Heiden geht über Straßburg, wo letzte Details mündlich geklärt werden. Am 2. Juli signiert er unter dem Schlusston der säuberlich ausgeschriebenen Partitur mit stolzen 359 Seiten: „Heiden, 2. Juli 1898 HH.“ Das über zweistündige Werk kann als grandioser Schlussstein der Oratorienkultur des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden. - In diesem Sommer darf sich Herzogenberg erneut als Architekt betätigen. Er gestaltet ein direkt benachbartes Haus um, das die Berliner Hochschulkollegin Elise Breiderhoff erworben hat und sinniger Weise Morgenroth tauft. Die Stimmung bei der Einweihungsfeier am 16. Juli scheint blendend gewesen zu sein, den Eintragungen in das erhaltene Gästebuch nach zu schließen. Weitere Festlichkeiten im Morgenroth wie Goethes Geburtstag (28.8.), wozu wieder Joseph Joachim anreist, und der Spitta-Besuch ab Ende August bringen die letzte glückliche Zeit im Abendroth. Herzogenberg fordert von seinem Theologenfreund neue „Arbeit“: Textvorlagen für durchkomponierte Biblische Szenen als gottesdienstliche Evangelienmusik nach dem Vorbild von Altmeister Heinrich Schütz. Am 9. September wird die erste, Das Kananäische Weib, signiert. Bei der zweiten, größeren, Der Seesturm, verhindert der Wiederausbruch des alten Rheumas im Herbst die Fertigstellung der Partitur, welche Arnold Mendelssohn dann posthum besorgt.

1899
Herzogenberg kann krankheitsbedingt zunächst nicht nach Heiden kommen. Am 10. Juli, also ziemlich exakt ein Jahr nach Fertigstellung der Partitur, erlebt er in Straßburg vom Rollstuhl aus die grandioseste Uraufführung eines seiner Werke. Zur Krönung des dort abgehaltenen 15. Deutschen Evangelischen Kirchengesangvereinstages wird in der Wilhelmerkirche vor der versammelten Kirchenmusikerprominenz Deutschlands die Erntefeier gegeben. Wegen der großen Nachfrage ist schon die Generalprobe am Tag zuvor öffentlich zugänglich. Das Werk macht einen gewaltigen Eindruck. - Trotz der Beschwerden zieht es Herzogenberg mit Macht nach Heiden. Ein letztes Mal ist er im September da. Auch Kollege Joseph Joachim logiert wieder in Heiden und sieht sich zwischen Morgen- und Abendroth hin- und hergerissen. Komponiert wird im Abendroth nicht mehr, nur noch an Druckausgaben korrigiert, und Helene Hauptmann, die hilfreiche Gefährtin der Heidener Jahre, verewigt „HH“ und „99“ in bis heute vorhandenen Wandtüren-Intarsien. Als Herzogenberg dann sein liebes Abendroth verlässt, ist ihm wohl klar, dass es ein Abschied für immer sein wird. Er notiert ins (eigene) Gästebuch wiederum Worte Eichendorffs: „Ade, ihr Felsenhallen, du schönes Waldrevier, die falben Blätter fallen, wir ziehen weit von hier ...“. Das hatte er schon sechs Sommer zuvor, am 12.September 1893, als „der Spittchens Abschieds-Lied von Heiden“ vertont und den scheidenden Gästen mitgegeben. Philipp Spitta aber war nicht mehr wieder gekommen ...

1900
Herzogenberg ist im Rollstuhl gänzlich an Wiesbaden gefesselt. Das Heidener Abendroth dient im Sommer lediglich als Dependance für Gäste des Morgenroth. – Nach Herzogenbergs Tod am 9. Oktober bleibt das Haus jahrelang „tot“, geht dann als wenig genutztes Urlaubsdomizil in den Besitz von Reichsdeutschen über, die es in Folge der Inflation nach 1918 wieder abstoßen. Helene Hauptmann ist noch jahrelang regelmäßiger Sommergast im Morgenroth, das ebenfalls inflationsbedingt 1920 veräußert wird. Der Aufenthalt der ehemaligen Morgenroth-Besitzerin Elise Breiderhoff anlässlich ihres 80. Geburtstages 1929 in der Pension Nord wird die letzte Spur des Herzogenberg-Kreises in Heiden sein, ehe mit dem Jahr 2000 von derselben Pension Nord aus ein neues Herzogenberg-Kapitel in Heiden sich auftut ...
(zum Anfang)

„... Lenz muss doch wieder kommen und alles auferstehn!“
Mit diesen (Eichendorff-)Worten aus Herzogenbergs Abschieds-Lied von Heiden evozierte Friedrich Spitta gegen Ende seiner Rede zur Einweihung des Grabsteins in Wiesbaden im September 1902 eine Zukunftsperspektive gegen den Augenschein, der schon damals – aus verschiedenen Gründen - keine breite Herzogenberg-Rezeption erwarten ließ.
Nachdem Neueditionen der beiden ersten Heidener Kirchenoratorien im Stuttgarter Carus-Verlag schon seit den 1990er-Jahren einige Aufführungen dieser Werke, vor allem des Weihnachtsoratoriums, vornehmlich in Süddeutschland begünstigten, scheint nun 100 Jahre später solche „Auferstehung“ von Heiden aus um sich zu greifen. Die Heidener Herzogenberg-Konzerte, im Jubiläumsjahr 2000 als über das zweite Halbjahr verstreuter Zyklus, in den Jahren 2001, 2002 und 2004 als dreitägige Veranstaltungssequenz mit Vorträgen, Ortsbegehung und auch Gottesdiensten durchgeführt, präsentierten Interessenten aus Deutschland und der Schweiz, aber zuvorderst den Bewohnern von Heiden und Umgebung „ihren“ Herzogenberg in der Vielfalt und Vitalität seines Schaffens wie seiner spannenden Lebensbezüge zu anderen Persönlichkeiten. Mit der Geburt Christi (2000), dem frühen Deutschen Liederspiel (2001), dem opus magnum Erntefeier (2002) und mit Messe und Erster Symphonie (2004) kehrten Großwerke als erlebbare Musik nach Heiden zurück, wie es sich der Komponist wahrscheinlich nie hat vorstellen können. Chöre aus Heiden und aus der Umgegend, auch aus dem Österreichischen Lustenau und aus Friedrichshafen jenseits des Bodensees wurden zur Erarbeitung dieser Werke gewonnen. Die mit Herzogenberg befassten Musikforscher (alle aus Deutschland) konnten in die Vorbereitung und Durchführung eingebunden werden und somit ihrerseits die Faszination Heiden erleben, wie sie seinerzeit Herzogenberg und seinen bei ihm logierenden Freunden zuteil geworden war. Die entscheidende Rolle des „Freundeshotels“ übernahm nun an Stelle des Abendroth die von Anne und Andres Stehli geführte Pension Nord. Fachwissenschaftliche Zuarbeiten wurden auf die Heidener Herzogenberg-Homepage übernommen, so dass von hier aus eine breite Streuung der Informationen möglich wurde. Auch für die im Sog des Jubiläumsjahres 2000 sichtlich zunehmende CD-Produktion von Herzogenberg-Werken, heute das entscheidende Kommunikationsmedium für Musik, bietet die Homepage eine zentrale Informations- und Vermittlungsstelle. Der so realisierte Konnex von lokaler Vitalisierung und weltweiter Kommunikation im Internet scheint ein Modell von Kulturförderung zu sein, das Zukunft hat. Letzteres allein bliebe unglaubwürdig, wenn es nicht einen Ort gäbe, wo Herzogenberg tatsächlich „lebt“ – sein geliebtes Heiden im Appenzeller Land. (zum Anfang)

Nachwort
Solches „Leben“ bedarf allerdings der erheblichen finanziellen Zuwendung, denn die an Modetrends und großen Namen orientierten kulturellen Vermarktungsstrategien fördern die „Einschaltquoten“ bei Geheimtipp-Veranstaltungen nicht gerade. Hier muss zur offenbar nicht kontinuierlich fortsetzbaren Förderung durch öffentliche Hand und Sponsoren und zum bisherigen immensen persönlichen Engagement eine strukturelle Flankierung treten, welche auch in der Außendarstellung als repräsentative Größe in Erscheinung tritt. So wurde im Rahmen der Herzogenberg-Tage 2004 der Verein Internationale Herzogenberg-Gesellschaft mit Sitz in Heiden gegründet, der sich über Mitgliederzuwachs freut, auf dass die Causa Herzogenberg und Heiden den Status einer Episode definitiv abstreifen wird.  (zum Anfang)

 


 

Entwicklungen nach 2004

Internationale Herzogenberg-Gesellschaft oder:
Zum Alltag im Verein

Mit dem Label «Internationale Herzogenberg-Gesellschaft» konnten Dotationen und Stiftungsmittel in respektablem Umfang eingeworben werden, welche die Weiterführung der Konzerttage in Heiden auf hohem Niveau erlaubten. Die mehrfache Einbindung in das Bodenseefestival brachte zwar nicht unbedingt mehr Publikum, aber eine bewusstere Verankerung der Causa Herzogenberg im kulturellen Geschehen der Region. Im Jahr 2006 wurde diese mit einer Konzertfolge in Trogen, Friedrichshafen und Salem auch förmlich abgeschritten. Mit der Totenfeier hatte Heiden bereits 2005 ein chorsymphonisches Großwerk erlebt.

Ein fantastischer Höhepunkt war im Jahr 2008 die Uraufführung des in Handschrift erhaltenen Violinkonzerts, seinerzeit für Joseph Joachim geschrieben, von diesem aber nie aufgeführt. Hier bewährte sich wie in zahlreichen weiteren Konzerten die enge Vernetzung mit Kulturschaffenden der Region, denn Vorstandsmitglied Mario Schwarz und sein Collegium Musicum St. Gallen wagten mit der Geigerin Lisa Shnayder diese Großtat und brachten ein überraschend kurzweiliges und ohrenfälliges Werk ans Tageslicht.

An den Herzogenberg-Tagen 2007 wurde zum 100. Todestag des berühmten Norwegers Edvard Grieg dessen freundschaftliche Beziehung zu den Herzogenbergs in den Blick genommen. Dies motivierte den Präsidenten der Internationalen Grieg-Gesellschaft, Prof. Patrick Dinslage (Berlin), zu Recherchen in Bergen/Norwegen über Herzogenberg-Briefe und ließ ihn mit 22 Schreiben aus dem Briefwechsel mit Grieg in Heiden 2008 ein erstaunliches Ergebnis präsentieren.

Mit einer weiteren Uraufführung überraschte Christoph Jakobi (St. Ingbert/Saarland) die Gesellschafter-Versammlung im Jahr 2010. Via Internet hatte er das Manuskript eines Liedes von Elisabeth von Herzogenberg aus der Verlobungszeit bei einem New Yorker Antiquar ausfindig gemacht und erworben. Dieses Manuskript stammte aus dem Besitz der englischen Herzogenberg-Schülerin Ethel Smyth und ist in deren Memoiren erwähnt. Inzwischen ist es im furore-Verlag auch publiziert.

Der stabile Herzogenberg-Freundeskreis von 160 Gesellschaftsmitgliedern konnte auch die einerseits umfänglicheren, andererseits etwas privateren Kulturtage goutieren, die 2009, 2010, 2012 und 2014 unter dem Dach des Kulturpodiums Heiden veranstaltet wurden und das Augenmerk jeweils auch auf einen weiteren Komponisten legten (Schubert, Schumann, Brahms). Dabei wurden auch Ensembles und Künstler einbezogen, die bei der groß angelegten Herzogenberg-Produktion des CD-Labels cpo mitwirkten, etwa das namhafte Minguet-Quartett oder die Pianistin Natasa Veljkovic.

Das Jahr 2011 war ein Reisejahr mit einer sommerlichen Kulturwoche in Herzogenbergs langjähriger Wirkungsstätte Leipzig. Im November zuvor führte eine Reise zur Aufführung der Erntefeier, Herzogenbergs letztem grossen Werk, nach Speyer, verbunden mit Besuchen an des Meisters Grab in Wiesbaden und im einstigen Herzogenberg-Mekka Straßburg. Dabei zeigte sich die große Bedeutung der Kontaktpflege mit örtlichen Kulturinstitutionen und deren Unterstützung in Sachen Herzogenberg.

Das Medium CD ist heute entscheidend für die Verbreitung von Musik. Die Gesellschaft tritt hier in ganz verschiedener Form unterstützend in Erscheinung, von der Werbung und dem Vertrieb via Homepage über Booklet-Texte von den eigenen Fachleuten bis hin zu finanziellem Support. Inzwischen ist bei cpo die Kammermusik weitgehend zugänglich, die vielen feinsinnigen Lieder sind noch in der Warteschleife, die so herausragende Chormusik a cappella und mit Orchester steckt in den Anfängen.

Für die unerlässlichen Noteneditionen konnten einerseits der renommierte Peters-Verlag gewonnen werden (Liederspiel, Klavierstücke, Cello-Sonaten), andererseits hat der auf Chormusik spezialisierte Carus-Verlag seiner mustergültigen Edition der Messe e-Moll (2002) und weiterer Einzelausgaben nun zwei ambitionierte Chorbücher zur weltlichen wie geistlichen a-cappella-Literatur folgen lassen. Dies alles funktioniert nur mit beträchtlicher finanzieller Unterstützung, welche über die Gesellschaft organisiert wurde und durch ehrenamtliche Herausgebertätigkeit seitens ihrer Fachleute. In Zukunft wird wohl das kostengünstige Medium Internet auch für Noten in den Vordergrund treten.

In ein weiteres entscheidendes Medium schaffte es Herzogenberg im Jahr 2012: die in Heiden entstandene Kantate «Gott ist gegenwärtig» prägte einen ZDF-Fernsehgottesdienst im August aus Warnemünde an der Ostsee.

UMD Prof. Dr. Konrad Klek, Erlangen,

im Dezember 2012

 

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