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Bernd Wiechert

Heinrich von Herzogenberg und die Kammermusik

Einführung (Booklet)
aus der Doppel-CD mit
Klavierquartett op. 75
Klavierquartett op. 95
Streichtrio op. 27/1
Streichtrio op. 27/2
Legenden op. 62

 
Als sich Heinrich von Herzogenberg (1843-1900) im Jahre 1871 entschloss, seine Geburtsstadt Graz zu verlassen und nach Leipzig überzusiedeln, stand er - wohl ohne es zu ahnen - am wichtigsten Scheidepunkt seines künstlerischen Lebens: Nach einem mit großem Erfolg absolvierten Kompositionsstudium bei Otto Dessoff am Konservatorium der Musikfreunde in Wien hatte sich Herzogenberg, Angehöriger einer österreichischen Adelsfamilie französischer Herkunft, 1867 als freischaffender Komponist in Graz niedergelassen. Hier folgte eine Periode der ersten künstlerischen Freiheit, in der fast jedes neue Werk mit Erfolg uraufgeführt wurde. Die Rezensionen in der Grazer Tagespost belegen aber, dass sein Schaffen als disparat empfunden wurde, weder konservativ noch progressiv zu nennen war und sich den Kritikern einer eindeutigen Wertung entzog. Herzogenberg hatte sein Œuvre mit Liedern und Klavierwerken eröffnet, die augenscheinlich auf Robert Schumanns Vorbild zurückgehen. In seinen Chorwerken und Volksliedbearbeitungen jener Zeit machte sich eher der Einfluss von Brahms bemerkbar. Ein Werk wie die dramatische Kantate Columbus (1870) wiederum wurde als Schöpfung eines Wagnerianers gewürdigt. - In seiner unentschlossenen Haltung im Parteienstreit des 19. Jahrhunderts erkannte Herzogenberg für sich selbst die Gefahr der Stagnation, er wollte und musste über die eigene Anschauung Klarheit gewinnen; für den nach Leitbildern Suchenden schien alles zu einem Kulminationspunkt hinzudrängen.
 
Dass der junge Komponist in Leipzig überaus empfänglich für jede von außen kommende Anregung war, liegt auf der Hand. »[Ich] faßte dort«, so Herzogenberg später, »unter mannigfaltiger Anregung meine Kräfte neu zusammen«. Am Anfang stand die Freundschaft mit dem Bach-Biographen Philipp Spitta, die in seltener Intensität fast 20 Jahre bis zu dessen Tod andauern sollte. 1874 dann ergab sich in Leipzig die Gelegenheit, die bislang nur flüchtige Bekanntschaft mit Brahms zu vertiefen. Beide Beziehungen sollten sich für Herzogenbergs weitere Entwicklung als außerordentlich bedeutsam erweisen: Wurde ihm Spitta »ein Manometer, der nie trügt« und »nicht nur als musikalisches Gewissen, sondern durch und durch als Mensch und Freund« unentbehrlich, so fand Herzogenberg in Brahms sein ideelles Komponistenvorbild; »er hat mir, nur durch seine Existenz, zu meiner Entwicklung verholfen; das innere Aufschauen zu ihm, zu seiner künstlerischen und menschlichen Kraft, hat meine weichere Seele gestärkt und rastlos weitergetrieben bis zu dem Punkt wo ich stehe.«
 
Nach Herzogenbergs eigenem Bekunden seien in den ersten Leipziger Jahren manche »Schlacken« von ihm abgefallen. Das Ergebnis dieses Prozesses, den er sinnbildlich als »Häutung« bezeichnete, bestand in der Lossagung von allen ›neudeutschen‹ Tendenzen und in der erklärten Hinwendung zum Traditionalismus. Fast drei Jahre dauerte es, ehe er sich 1876 als Komponist wieder zu Wort meldete. Dass dies ausgerechnet mit zwei Kammermusikwerken (Klavierquintett op. 17, Streichquartett op. 18) geschah, verdient besondere Beachtung, denn die Beschäftigung mit einer Gattung, die für Liszt und Wagner nicht existierte und die zum Inbegriff einer reaktionären Musik geworden war, bedeutete einen richtungweisenden Schritt für einen Komponisten, der eben noch zwischen den gegenläufigen Reizen der Fortschrittspartei und der Konservativen geschwankt hatte. Mit seiner - von Studienarbeiten abgesehen - ersten kammermusikalischen Auseinandersetzung legte Herzogenberg ein Bekenntnis zur klassischen Tradition und damit zu Brahms, deren Hauptrepräsentanten, ab.
 
Von nun an widmete Herzogenberg der Kammermusik besonderes Augenmerk. In seinen Briefwechseln, etwa mit Spitta, nimmt sie gegenüber anderen Gattungen einen wesentlich größeren Raum ein, und sicher ist es kein Zufall, dass alle vier Brahms zugeeigneten Werke Kammermusikwerke sind. Auf keinem anderen Gebiet kam Herzogenberg der künstlerischen Identität seines Vorbildes so nahe - so verhängnisvoll nahe, denn nirgendwo anders zeigte sich seine jetzt zur Devotion neigende Orientierung offener als hier. »Mehr wie bei anderen Kollegen«, gestand Brahms 1887, »muß ich bei Heinz’ Sachen an mich denken und werde daran erinnert, wie und wo - ich eben auch zu lernen und zu machen versuche.« Brahms erkannte Herzogenbergs außergewöhnliche Begabung respektvoll an, tat sich aber schwer mit der Musik des jüngeren Mitstreiters, der gemeinsam mit seiner hochgebildeten Frau Elisabeth, einer ehemaligen Klavierschülerin von Brahms, dem verehrten Meister uneingeschränkte Hochachtung zollte, selbst aber meist vergebens auf ein Zeichen künstlerischer Anerkennung hoffte. Je deutlicher sich schließlich Herzogenbergs Ambitionen über den Rahmen dieser nicht unproblematischen Dreiecksbeziehung hinaus offenbarten, desto unnachsichtiger war die Kritik: Was ihm zunächst als hoffnungsvolles Nacheifern zugute gehalten worden war, kehrte sich nun um in den Vorwurf epigonalen Nachahmens, der dann zu einem regelrechten Topos wurde. Tatsächlich darf spekuliert werden, wie seine weitere Komponistenkarriere verlaufen wäre, hätten sich in Graz oder Leipzig die Weichen anders gestellt. So aber galt Herzogenberg schon für die Musikgeschichtsschreibung seiner Zeit als der »Brahms-Epigone« schlechthin.
 
Nahezu ein Jahrhundert hat es gedauert, bis sich die Musikwissenschaft der Person und dem Werk Herzogenbergs in einer neuen, differenzierten Sichtweise wieder zu nähern begann. Erste Dissertationen liegen inzwischen vor, außerdem mehrere Tonträger und Neudrucke seiner Werke, und mitunter findet sich sogar ein bislang unbeachtetes Opus in Konzertprogrammen wieder. Im 100. Todesjahr Herzogenbergs bieten die Ersteinspielungen der vorliegenden CD weitere Gelegenheit zu einer Auseinandersetzung. Die Kammermusik gehört zu den besten Leistungen des Komponisten und mag demjenigen, der ihr unvoreingenommen gegenübertritt, einen überzeugenden Beweis liefern, dass Herzogenbergs Werke eine eigenständige Wertschätzung mehr als verdient haben.
 
Streichtrio A-Dur op. 27/1
Mit seinen beiden Streichtrios op. 27 knüpfte Herzogenberg an klassische Vorbilder (Beethoven) an und griff damit eine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum (auch von Brahms nicht) gepflegte Gattung wieder auf. »Ich fing jetzt ein Streich Trio an, und lerne Viel dabei«, ließ der Komponist im Februar 1877 seinen Freund Spitta wissen. Auf dessen Empfehlung hin wurde das in A-Dur stehende Werk einer gründlichen Revision unterzogen, bevor es zwei Jahre später im Druck erschien, zusammen mit einem zwischenzeitlich komponierten zweiten Streichtrio in F-Dur. Die beiden Stücke gehören zu den wenigen Werken Herzogenbergs, über die sich Brahms lobend äußerte. In ihnen »wuzelt es allerliebst«, schrieb er im November 1879, und noch sieben Jahre später hielt er sie, wie aus einem Brief an Herzogenbergs Frau hervorgeht, in dessen Schaffen »für eine Art Höhepunkt, von wo ich wünschte, daß er recht lebenslustig weiter stiege oder flöge«.
Sogleich der erste Satz (A-Dur) mag Brahms für sich eingenommen haben, denn aus den beiden rokokohaft graziösen Themen leitet sich ein elegantes, in friedlicher Unruhe verlaufendes Spiel der Motive ab, hinter dem wohl jenes so sympathische ›Wuzeln‹ zu vermuten ist. Von der berückenden Einfachheit und Kantabilität eines Volkliedes sind die beiden Rahmenteile des Andante (D-Dur). In ihrer Mitte steht eine Chaconne en miniature mit einem kontrapunktisch originell variierten, durch alle Stimmen wandernden Thema. Der dritte Satz (a-Moll) hat tänzerischen Charakter. Bordun- und Fidelklänge und der mit Trillern und Vorschlägen reich ornamentierte Mittelteil lassen an eine Szene aus dem nordischen Volksmusikleben denken. Unbeschwert entfaltet sich auch das abschließende Allegro (A-Dur), ein recht eigenwillig gestalteter Sonatensatz. Seinem tänzerisch verspielten Auftakt folgt bald ein trotzig aufbegehrendes, fast symphonisches Thema, das gegen Ende die Oberhand gewinnt.
1903 brach Wilhelm Altmann in seiner Abhandlung zu Leben und Werk Herzogenbergs eine Lanze für die beiden Streichtrios, indem er sie nicht allein als Bereicherung des Repertoires gelten lassen wollte, »sondern an und für sich als rein musikalische Produkte von bleibendem Wert«. Tatsächlich scheinen beide Werke, historischen Konzertführern zufolge, nie ganz aus der musikalischen Praxis verschwunden zu sein; aufgrund ihrer Klangschönheit und ihrer klaren formalen Anlage dürfen sie zu recht als vorzügliche Vertreter ihrer Gattung gelten. Sind die zu Anfang der Leipziger Periode komponierten Streichtrios unmissverständliche Zeugnisse einer neu gewonnenen klassischen Orientierung, so zeigt das über ein Dezennium später entstandene erste Klavierquartett den kammermusikalischen Spätstil Herzogenbergs voll ausgeprägt.
 
Streichtrio F-Dur op. 27/2
Mit seinen beiden Streichtrios op. 27 knüpfte Herzogenberg an klassische Vorbilder (Beethovens op. 9) an und griff damit eine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum (auch von Brahms nicht) gepflegte Gattung wieder auf. Das F-Dur-Trio wurde 1879 komponiert und erschien im gleichen Jahr im Druck, zusammen mit einem früheren Trio in A-Dur. Die beiden Stücke gehören zu den wenigen Werken Herzogenbergs, über die sich Brahms lobend äußerte. In ihnen »wuzelt es allerliebst«, schrieb er 1879, und noch sieben Jahre später hielt er sie, wie aus einem Brief an Herzogenbergs Frau hervorgeht, in dessen Schaffen »für eine Art Höhepunkt, von wo ich wünschte, daß er recht lebenslustig weiter stiege oder flöge«.
Als würde freundlich zum Mitspielen aufgefordert, beginnt der erste Satz (Moderato, F-Dur) ohne Eile in zeitversetzter Imitation. Die Themen und ihre Verarbeitung führen bald zu einer ganz aparten Mischung aus Behaglichkeit und Keckheit. Von einem italienischen Meister könnte das Andantino (D-Dur) mit seiner Barkarole-Begleitung stammen. Gravitätisch hebt das zwischen Moll und Dur wechselnde Menuett (d/F) an, in dessen B-Teil Tremolo und Pizzicatospiel Gedanken an nordische Fidelklänge wecken. Im Schlusssatz (F-Dur) ›wuselt‹ es dann richtig bewegt. Motive des Hauptthemas glaubte Herzogenberg später im Finalsatz von Brahms’ F-Dur-Streichquintett (1882) wiederzuerkennen und stolz als Reminiszenz werten zu dürfen, doch war die Ähnlichkeit, wie Brahms klarstellte, eine zufällige.
Herzogenbergs Streichtrios scheinen, historischen Konzertführern zufolge, nie ganz aus der kammermusikalischen Praxis verschwunden zu sein; aufgrund ihrer Klangschönheit und ihrer klaren formalen Anlage dürfen sie zu recht als vorzügliche Vertreter ihrer Gattung gelten.
 
Legenden op. 62
1874 hatte Philipp Spitta den Leipziger Bachverein initiiert, einen gemischten Chor, der sich - unter Herzogenbergs musikalischer Leitung - um die frühe Rezeption der Kantaten Bachs sehr verdient machte. Nach zehnjähriger Tätigkeit verabschiedete sich Herzogenberg 1885 vom Musikleben Leipzigs, um an der Hochschule für Musik in Berlin eine Professur für Komposition zu übernehmen. Seine Lehrtätigkeit wurde jedoch gestört, bevor sie überhaupt eine gewisse Kontinuität entfalten konnte: 1887 erkrankte er an einem schwerwiegenden Gelenkleiden, das ihn mehrfach zu langen Unterbrechungen zwang und schließlich für seinen frühen Tod mitverantwortlich war. Im Mai 1888 ließ Herzogenberg Spitta wissen, endlich dürfe er »im Rollwagen in’s Freie fahren! Wie wird das sein! nach 7½ monatlichem Bettliegen! Denke an mich als an einen Glücklichen!«; zu Ehren dieses Feiertages habe er ein »Minuetto trionfale alla ‘Gamba forte’« komponiert. Hinter der scherzhaften Bezeichnung verbarg sich vermutlich die mittlere der drei Legenden für Viola (oder Violoncello) und Klavier, die zwei Jahre später, Joseph Joachim gewidmet, als op. 62 veröffentlicht wurden.
Biographische Ereignisse spiegeln sich in den Werken Herzogenbergs nur ausnahmsweise wider, aber gerade bei den Legenden liegt eine solche Ausdeutung nahe. Der Titel weist zunächst auf die Gattung des Charakterstücks hin, wie es in romantisierender Musik häufiger zu finden ist. Nach den Strapazen des Krankenlagers mag sich Herzogenberg aber auch wie ein Märtyrer aus einer alten Legende gefühlt haben, der, um seiner Liebe zum Leben willen, alle Leiden auf wundersame Weise ertragen hat. In diesem Sinne ist wohl das Epigramm zu interpretieren, das der Komponist dem leidenschaftlichen Herzstück, der Nr. 2 (h-Moll), überschrieben hat: »Pfeile, durchdringet mich,/ Lanzen, bezwinget mich,/ Keulen zerschmettert mich,/ Blitze durchwettert mich,/ Dass ja das Nichtige,/ Alles verflüchtige,/ Glänze der Dauerstern,/ Ewiger Liebe Kern.« Die beiden anderen Legenden sind musikalisch und technisch weniger anspruchsvolle, zart-poetische Stimmungsbilder, die erste (D-Dur) ein Stück mit Menuettcharakter und kontrastierendem Mittelteil, die dritte (G-Dur) ein feinsinniger Variationensatz.
 
Klavierquartett e-Moll op. 75
»Also, klappen wir dies Buch zu, und machen wir ein Neues auf!«, schrieb Herzogenberg im Mai 1885 an Philipp Spitta, voller Zuversicht im Hinblick auf seine Übersiedelung nach Berlin und die ihn erwartende neue Tätigkeit als Professor für Komposition an der Hochschule für Musik. Das nun folgende Kapitel seines Lebens sollte von manchen beruflichen und künstlerischen Erfolgen, aber auch von Leid und persönlicher Tragik geprägt sein. 1887 erkrankte Herzogenberg an einem rheumatischen Gelenkleiden, das ihn fast zwei Jahre an das Krankenlager fesselte, sein Amt an der Hochschule kostete und schließlich auch für seinen frühen Tod verantwortlich war. Im Herbst 1891 dann ließ ein drastisch verschlimmertes Herzleiden Elisabeths keine andere Wahl mehr, als die gerade wieder aufgebaute berufliche Existenz - nun an der Akademie der Künste in Berlin - erneut aufzugeben, um im milden Klima der italienischen Riviera Heilung zu suchen. »Dafür, das begreifst Du wohl, wäre kein Opfer schwer, und stellte es mein ganzes Leben auf den Kopf.« Auch nach mehrwöchigem Aufenthalt in San Remo konnte Herzogenberg keinerlei Besserung melden. »Die Zeit hat so gar keinen Werth für uns«, schrieb er Ende Dezember wiederum an Spitta. »Ich selbst pästle so herum, ohne Lust, rein nur um über Wasser zu bleiben. Drei Sätze eines Clav. Quartett’s sind fertig, der letzte bleibt noch eine Weile aus, da er vergnüglicher werden soll.«
Alle Hoffnungen waren vergebens. Elisabeth von Herzogenberg starb, erst 44-jährig, am 7. Januar 1892 in San Remo. Über 23 Jahre war sie die in jeder Hinsicht ideale Weggefährtin des Komponisten gewesen. 1847 in Paris geboren und in einer kunstliebenden Adelsfamilie aufgewachsen, war ihr eine hervorragende musikalische Ausbildung zuteil geworden. Ihr Vater Bodo Albrecht von Stockhausen hatte in seiner Zeit als Gesandter des Königs von Hannover am französischen Hof zu den Klavierschülern Chopins gezählt und ist Widmungsträger von dessen Ballade op. 23. Elisabeth (›Lisl‹), deren Esprit und Intellekt etwa in dem gedruckten Briefwechsel mit Brahms zum Ausdruck kommt, bildete wohl auch den eigentlichen Reiz in dessen Beziehung zu den Herzogenbergs. In seinem Kondolenzschreiben bekundete Brahms dann auch: »Sie wissen, wie unaussprechlich viel ich an Ihrer teuren Frau verloren habe«. »Wissen Sie denn«, heißt es im Antwortbrief, »daß acht Tage vor meiner Frau meine Schwiegermutter hier [in Florenz] gestorben ist? Die beiden wußten nichts mehr von einander, ich hielt es vor Lisl geheim. Das war schrecklich, zum Verrücktwerden!« Der Verlust erschütterte Herzogenberg schwer, ließ ihn aber nicht resignieren. »Mich überstrahlt eine derartige Fülle von Licht und Liebe, daß ich nur wenig Schmerz fühle - oder ist das der Schmerz? wer kennt ihn vorher!«, reflektierte er in einem Brief an Spittas Frau. Seinen Utrechter Freunden Emma und Theodor Wilhelm Engelmann versicherte er: »Laßt die gütige Zeit diese Bilder, bei denen mir das Herz blutet, leise in die Ferne rücken, dann sollt Ihr sehen, daß ich nicht Schiffbruch gelitten habe - was wäre denn an einem so grenzenlosen Glück, wie ich es genossen, wenn es nicht abfärbte, wenn es durch Tod und Trauer zu vernichten wäre.« Herzogenberg flüchtete sich ins Komponieren; er habe sich »sofort in Arbeiten eingebohrt und hoffe, nicht wieder daraus erwachen zu müssen«, offenbarte er Brahms. Die erste künstlerische Tätigkeit nach Elisabeths Tod galt dann der Komplettierung des erwähnten Klavierquartetts. Am 3. Februar kündigte Herzogenberg den Engelmanns ein neues Werk an, »ein Stück, was ich sonst noch Niemandem zeigen möchte«. Im Brief nannte er es ein »Quartolog«: ein Selbstgespräch, das der Komponist wortlos geführt haben mag und jetzt mit vier Stimmen gleichsam in der Sprache seines Herzens der Außenwelt mitteilte. »Ihr seht an den Datum’s, wann es entstanden; geheimnißt aber nicht zuviel hinein und heraus.«
Ernst, fast bedrohlich hebt der erste Satz (e-Moll) mit einem Thema Brahmsscher Prägung an, das sich aus einem kleinsten motivischen Einfall heraus entwickelt. Ihm steht ein volksliedhaftes zweites Thema gegenüber. Der pathetische Durchführungsteil scheint jene beklemmende Verzweiflung zu spiegeln, die Herzogenberg in seiner Sorge um Elisabeth durchlebte. Insgesamt bleibt der erste Satz mit seinem Wechsel zwischen dramatischen und lyrischen Momenten seltsam in der Schwebe, so als habe der Komponist das Unwägbare der Lage darstellen wollen: »es ist eben auch bei uns Stillstand eingetreten, wir wissen nicht ob’s mit unserer Kranken aufwärts oder abwärts geht«. Wie eine fromme Bitte um Erlösung von den Leiden schließt sich der langsame Satz (H-Dur) an, ergreifend in seiner unprätentiösen Schlichtheit, »ein wahres Lied ohne Worte« (W. Altmann). Nicht heroisch, sondern mit klagendem Gestus bäumt sich das Scherzo (e-Moll) auf. Den in Dur stehenden Mittelteil hat Herzogenberg selbst kommentiert: »Das Trio des Scherzo’s z.B. ist entstanden, als mir die Glieder vor Aufregung und Entsetzen schlotterten: an dem Tag verlor sie auf 5 Stunden das liebe wonnige Augenlicht!« Eine Liebeserklärung an die Verstorbene ist der Schlusssatz (E-Dur), eine in beiden Themen Atem schöpfende, weihevoll verklärte Trauermusik. Wie »ein heiliger überirdischer Gesang« erschien Theodor W. Engelmann dieser Epilog, der mit einer Reminiszenz an den langsamen Satz schließt und in seiner Verklärung die Gewissheit himmlischen Friedens auszudrücken scheint. »Vielleicht versteht Ihr das Finale am ehesten«, schrieb Herzogenberg an das Ehepaar Engelmann, »doch nein, Ihr saht sie ja nicht wie eine Braut unter Rosen lang ausgestreckt liegen, schön, jung und lieblich - eine Verlobung für die Ewigkeit!«
Am Schicksal Elisabeth und Heinrich von Herzogenbergs hatte der Freundeskreis aus weiter Ferne bestürzt Anteil genommen; vor diesem Hintergrund wurden jetzt Intensität und Aussagekraft des neuen Werkes sofort als außergewöhnlich empfunden. Ergriffen bekannte Engelmann: »Die Themen verlassen mich nicht, und ich lebe so in dieser herrlichen Musik, daß sie mich ganz erfüllt und jede Minute erquickt. Sie haben sie mit Ihrem Herzblut geschrieben.« Seine Frau drängte: »Wann wird Ihr neues Quartett erscheinen? Es muß gefallen.« Der Komponist selbst sollte recht behalten, als er im April 1892 nach einer privaten Aufführung des Werkes in Rom in einem Brief an Emma Engelmann äußerte: »Ich finde, daß es gut klingt, und auch ohne biografische Notizen eine Wirkung machen kann.« Sein Opus 75 ließ Herzogenberg in Druck gehen, noch bevor er im Herbst 1892 als neu gewählter Senator der Akademie der Künste nach Berlin zurückkehrte. Von der musikalischen Öffentlichkeit freilich wurde das Klavierquartett nicht stärker beachtet als andere Kompositionen Herzogenbergs, mit denen es schließlich auch das Schicksal jahrzehntelanger Vergessenheit teilte. Die nahe stehenden Freunde aber wussten subjektive Erlebnisse und schöpferische Eigenständigkeit in ein rechtes Verhältnis zu setzen und vermochten hieraus das Neuartige dieses Werkes zu erkennen: Persönlich erfahrenes Leid hatte dem Schaffen Herzogenbergs eine neue Dimension der Sublimierung eröffnet. So schrieb Philipp Spitta an Joseph Joachim, nachdem er das Werk im März 1892 erstmals gehört hatte: »Der Eindruck war ein tiefergreifender, nicht etwa pathologischer oder durch Vergleichungen und Nebengedanken hergestellter, sondern rein und echt künstlerischer. Dies Quartett ist sicher seine schönste Instrumentalcomposition, meisterlich in der Form, wohlklingend und voll von verschiedenartigen, unmittelbar einleuchtenden und eigenthümlichen Gedanken. Engelmanns haben denselben Eindruck gehabt. Nun frage ich Dich: kannst Du das verstehen? Denn es ist keine Musik, nur gemacht, um sich zu zerstreuen. Der ganze Herzogenberg der letzten Monate ist darin mit seiner Liebe, seiner Angst um sie, mit seiner rührenden Klage und Kindlichkeit, und auch seinem männlichen Muthe. Man will es nicht glauben, aber es ist doch wahr: er hat sich in Kraft und Freiheit über seine schweren Erlebnisse erhoben. Er hat in diesem Werke Töne gefunden, die ihm bisher nicht zu Gebote gestanden haben. Müssen gewisse Menschen erst bluten, bevor ihr ganzes Innere sich zeigt?«
 
Klavierquartett B-Dur op. 95
Nach dem frühen Verlust seiner Frau (1892) traf den Komponisten mit Philipp Spittas Tod (1894) ein zweiter bitterer Schicksalsschlag. Die Rolle des Freundes sollte fortan dessen Bruder, der Straßburger Theologe Friedrich Spitta, übernehmen, der erst 1893 in Herzogenbergs Bekanntenkreis eingetreten war. »Daß es wieder ein Spitta ist, der an mich glaubt und für mich einsteht, ist, wie Du weißt, für mein Herz sehr beweglich«, heißt es in einem Brief von 1896. In seinen letzten Jahren widmete sich der Katholik Herzogenberg mit ganzer Kraft den musikalischen Reformbestrebungen der protestantischen Kirche; Liturgische Gesänge, Motetten und drei Kirchenoratorien waren die Hauptergebnisse einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit Friedrich Spitta. Andere als kirchenmusikalische Werke blieben für den Komponisten ohne Reiz, besonders die reine Instrumentalmusik, von der er 1895 bekannte, sie erscheine ihm »im Augenblick wie eine interessante subjective Verirrung«. Dass Herzogenberg sich dann doch noch ein letztes Mal der Kammermusik zuwandte, ist dem Umstand zu verdanken, dass die Ausarbeitung seines Oratoriums Die Passion einmal ins Stocken geriet. »Da brauchte es eine tüchtige Cur, die ich mir in Form einer anderen sehr contrastirenden Arbeit verordnete.«
Im Herbst 1895 entstand so (neben seiner letzten Cellosonate op. 94) das zweite Klavierquartett in B-Dur op. 95, eines der besten und reifsten Instrumentalwerke Herzogenbergs. In dem packenden ersten Allegro-Satz (B-Dur) herrscht unverkennbar Brahmsscher Gestus. Mit einer kompositorischen Ökonomie, wie sie für Brahms so typisch ist, lässt Herzogenberg die scharf akzentuierten Einleitungsakkorde zur motivischen Keimzelle des ganzen Satzes werden. Die thematische Entwicklung erfolgt sehr organisch und bezeugt, etwa im orgelpunktartig verdichteten zweiten Thema, einmal mehr seine besondere Vorliebe für kontrapunktische Gestaltung. Das Adagio in der entlegenen Tonart Fis-Dur ist eine Perle in Herzogenbergs Kammermusikschaffen; nie zuvor gab es aus der Feder des Komponisten, dem doch der Makel des ›trockenen Akademikers‹ anhaftete, einen solch schwelgerischen und zugleich träumerisch-intimen Satz; sein Beiname Notturno scheint doppelsinnig auch auf die Schöpfung eines Künstlers hinzudeuten, der sich bereits an seinem Lebensabend sieht. Das kapriziöse Scherzo (f-Moll) überrascht durch seinen Mittelteil, in dem unvermutet Schalmeiklänge die pastorale Sphäre einer Hirtenidylle heraufbeschwören. Im Finale (B-Dur) verbinden sich drei Themen zu einem schwungvollen Kehraus. Besonders reizvoll ist das folkloristische Hauptthema (g-Moll), dessen Temperament an manchen Satz ungarischer oder slawischer Prägung von Brahms oder Dvorák denken lässt.
Nicht nur die Chronologie weist dem Klavierquartett eine exponierte Stellung zu, sondern auch die Widmung - die letzte an Brahms. Wenige Tage vor dessen Tod formulierte Herzogenberg im März 1897: »Zwei Dinge kann ich mir nicht abgewöhnen: Daß ich immer komponiere, und daß ich dabei ganz wie vor 34 Jahren mich frage, ›was wird Er dazu sagen?‹ ›Er‹, das sind nämlich Sie. Sie haben nun zwar seit längeren Jahren nichts dazu gesagt; was ich mir deuten mag, wie ich will. Meiner Verehrung für Sie hat es aber keinen Eintrag getan. Und so betone ich sie wieder einmal durch eine Zueignung, die Sie mir freundlich zugute halten mögen!« An Joseph Joachim schrieb er: »Ich freue mich, daß ich’s gethan habe, wenn auch seinerseits kaum mehr eine Antheilnahme vorauszusetzen war.«
In der Retrospektive wird diese Widmung zum Symbol, denn wie den Schlussstein seines kammermusikalischen Œuvres hat Herzogenberg - zum Heil oder Unheil - auch seine eigene künstlerische Identität, sein Denken und Schaffen auf Brahms ausgerichtet: »der Gedanke an ihn und sein Urtheil hat aus mir gemacht soviel eben wurde; er war mein Fleiß, mein Ehrgeiz, mein Muth«.

Bernd Wiechert


 
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