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Heinrich von Herzogenberg (1843-1900)

Messe e-Moll für Soli, Chor und Orchester op. 87


Lange Zeit rangierte Heinrich von Herzogenberg, vom allgemeinen Musikleben wie von der Musikwissenschaft kaum beachtet, als Kleinmeister im Schatten von Brahms. Zwar findet sich sein Name als eine Randerscheinung in Biographien und Musiklexika, doch ist über die äußeren Daten hinaus nur wenig über diesen Komponisten bekannt geworden, dessen musikalisches Œuvre über 150 Werke aller bedeutenden Gattungen umfaßt. Erst seit kurzer Zeit finden Leben und Werk Herzogenbergs wieder neues Interesse. So hat sich vor allem sein Oratorium Die Geburt Christi wieder als eine feste kirchenmusikalische Größe etablieren können. Auch ist Herzogenberg inzwischen in das Blickfeld der Musikwissenschaft gelangt und in der jüngst erschienenen Dissertation des Verfassers (Heinrich von Herzogenberg - Studien zu Leben und Werk, Göttingen 1997) gewürdigt worden. Glückliche Umstände haben zudem in den Jahren 1994-96 im Nachlaßarchiv des Verlages Rieter-Biedermann, Leipzig, mehrere oratorische Werke Herzogenbergs ans Tageslicht befördert, die bislang als Kriegsverluste gegolten hatten. Unter ihnen fanden sich auch die Partitur und das historische Aufführungsmaterial der Messe op. 87, die zuletzt 1943 aus Anlaß des 100. Geburtstages des Komponisten in Dresden erklungen war und nun in einer Ersteinspielung auf CD dokumentiert wird.
 
Heinrich von Herzogenberg, geboren am 10. Juni 1843 in Graz, entstammte einer österreichischen Adelsfamilie französischer Herkunft. Er studierte Komposition bei Otto Dessoff am Konservatorium der Musikfreunde und gleichzeitig Rechtswissenschaften an der Universität in Wien. Danach lebte er als freischaffender Künstler in Graz und beschäftigte sich in dieser Zeit eingehend mit den Werken und der Musikästhetik Wagners, deren Einfluß sich in den frühen Kompositionen widerspiegelt. 1871 siedelte Herzogenberg nach Leipzig über und machte dort die wegweisende Bekanntschaft mit Philipp Spitta (1841-1894), dessen Name bis in die Gegenwart hinein untrennbar mit der Bachforschung verbunden ist. Spitta gilt als einer der Nestoren einer philologisch orientierten Musikwissenschaft; der erste, 1873 veröffentlichte Band seiner Bachbiographie, deren Methodik noch heute als vorbildlich gelten darf, brachte dem jungen Lateinlehrer mit einem Schlag die höchsten wissenschaftlichen Ehren ein, namentlich eine Professur für Musikgeschichte und eine Senatorenstelle in Berlin. Spitta vermochte es, Herzogenbergs Interesse für J. S. Bachs Kunst zu wecken. 1874 gründeten beide den Bachverein zu Leipzig, einen gemischten Chor, der sich die Wiederbelebung der Kantaten Bachs zur Hauptaufgabe gemacht hatte. 10 Jahre lang war Herzogenberg künstlerischer Leiter des Vereins, der für die Bachrezeption des 19. Jahrhunderts herausragende Bedeutung gewann.
 
Diese Tätigkeit, vor allem aber auch das freundschaftliche Verhältnis zu Brahms und die intensive Auseinandersetzung mit dessen Werken führten um 1875 zu einer Stilwende in Herzogenbergs Schaffen: Seine frühere Begeisterung für Wagner wurde gründlich nivelliert und von einer konsequenten Anlehnung an die klassische Tradition abgelöst. Herzogenbergs offen eingestandene, ja zur Devotion neigende Orientierung an Brahms stempelte ihn schon zu Lebzeiten als den „Brahms-Epigonen“ schlechthin, eine Tatsache, die später maßgeblich zum schnellen Vergessenwerden seines Wirkens beitrug. Die Übernahme einer Professur für Komposition an der als konservativ geltenden Hochschule für Musik in Berlin komplettierte 1885 das Bild von Herzogenberg als einem gelehrigen, aber trockenen Akademiker.
 
Eine einzige Komposition Herzogenbergs gelangte zu längerwährender Popularität, das bereits erwähnte Kirchenoratorium Die Geburt Christi op. 90 (1894). Dieses Werk war eines der Gemeinschaftsprojekte mit dem Straßburger Theologen Friedrich Spitta (einem Bruder von Philipp Spitta), auf dessen Initiative hin sich der Katholik Herzogenberg wie kein anderer Komponist des ausgehenden 19. Jahrhunderts für die liturgischen und kirchenmusikalischen Reformbestrebungen der evangelischen Kirche einsetzte. Musik für den Gottesdienst bildete den Schwerpunkt der letzten produktiven Jahre. Persönliche Schicksalsschläge trieben Herzogenberg immer stärker in soziale Isolation: 1892 starb seine hochbegabte Frau Elisabeth geb. von Stockhausen, einst Klavierschülerin von Brahms, 1894 verlor er Philipp Spitta und 1897 schließlich das verehrte Vorbild Brahms. Eine chronische Gelenkerkrankung zwang ihn zur Aufgabe aller Tätigkeiten und zuletzt zum Leben im Rollstuhl. Herzogenberg starb 57jährig am 9. Oktober 1900 in Wiesbaden.
 
Die Messe e-Moll op. 87 ist dem Andenken an Philipp Spitta gewidmet, dessen plötzlicher Tod am 13. April 1894 zu den tragischsten Momenten in Herzogenbergs Leben gehörte. Die Messe ist eine postume Liebeserklärung an den Verstorbenen, der ihm „nicht nur als musikalisches Gewissen, sondern durch und durch als Mensch und Freund“ unentbehrlich geworden war. In einzigartiger Weise hatte Spitta über 20 Jahre hin Einfluß auf die persönliche und künstlerische Entwicklung Herzogenbergs genommen und diese maßgeblich vorgeprägt. In einem Brief an Friedrich Spitta heißt es: „Alle meine Gedanken, alles was meine innere Entwicklung reifte war unser Gemeingut; ich kann mir diese Jahre ohne ihn gar nicht vorstellen - und nun soll ich’s lernen, ohne ihn auszukommen! Ein Ekel vor dem Leben und Weiterschaffen ergreift mich.“ Die Messe war dasjenige Werk, mit dem Herzogenberg schließlich zur künstlerischen Arbeit zurückfand. Sie entstand in dem kurzen Zeitraum zwischen Mai und Juli 1894 und erlebte ihre erfolgreiche Uraufführung am 2. Dezember desselben Jahres in Berlin unter der Leitung des Komponisten.
 
Wer sich mit Herzogenbergs Messe vertraut macht, wird verwundert feststellen, daß sich in diesem Werk des „Brahms-Epigonen“ eines so gut wie nicht findet: ein direkter Anklang an Brahms. Allein diese Beobachtung, die im übrigen nicht auf die vorliegende Komposition beschränkt bleibt, läßt ahnen, wie sehr die weitgehend unreflektierte Bewertung seiner Musik als Produkt epigonalen Schaffens einer Revision bedarf. Herzogenberg war Epigone, aber in einem anderen Sinn: in seinem Bestreben nämlich, tradierte Formen und Gestaltungsprinzipien zu übernehmen und zu wahren. In diesem Bemühen war er nicht Nachahmer, sondern Nacheiferer von Brahms. Bei höchster handwerklicher Meisterschaft, die auch Brahms bewundernd anerkannte, fehlte Herzogenberg jedoch der ausdrückliche Wille zur musikalischen Innovation; einen wirklich ‘epochemachenden’ Stil zu manifestieren war ihm nicht vergönnt. Was die Musikwissenschaft des 20. Jahrhunderts mehrfach aufzuzeigen bemüht war, hatte Herzogenberg für sich selbst schon zu Lebzeiten erkannt und akzeptiert: die Grenzen der eigenen Kreativität. Er sah sich als einen immer ‘unfertigen’ Künstler, der auf ein Leitbild angewiesen war. An Philipp Spitta schrieb der 40jährige: „Nenne mich nicht einen Dilettanten, das bin ich nicht. Ich glaube aber das richtige Wort gefunden zu haben: ich bin und bleibe: ein Volontair.“
 
Der fragwürdige Versuch, künstlerische Relevanz abzusprechen, wird weder dem Komponisten noch der Musik gerecht. So mag die vorliegende Einspielung ein anschauliches Indiz liefern, daß die Werke Herzogenbergs ihr augenblickliches Schattendasein in Bibliotheken und Archiven keinesfalls verdient haben können. Die Messe ist nicht das Werk eines leidlich Begabten, der, wie mitunter zu lesen ist, seine Kompositionen mühsam und mit mäßigem Erfolg austüftelte; sie ist im Gegenteil ein Zeugnis sicherer Meisterschaft, ein Werk der Reifezeit, das in seiner Gesamtheit eine souveräne, leicht von der Hand gehende Gestaltung offenbart. Herzogenberg hat in die Messe sein kompositorisches Können mit besonderer Sorgfalt eingebracht, was sicher mit dem Bedürfnis zusammenhing, Philipp Spitta in adäquater Weise ein musikalisches Denkmal zu setzen.
Sogleich im einleitenden Kyrie (Haupttonart e-Moll) zeigt sich, daß Herzogenbergs besondere Vorliebe der motivischen Durchführungsarbeit und der an Bach und Brahms geschulten kontrapunktischen Verdichtung gegolten hat. Archaische Züge trägt die großdimensionierte Chorfuge, die einen solistischen Mittelteil (Christe eleison) enthält und von zwei gewaltigen Kyrie eleison-Anrufungen am Anfang und Ende des Satzes umschlossen ist.
Das relativ kurze, zyklisch gebaute Gloria (G-Dur) beginnt in verhaltener, introvertierter Stimmung. Zugunsten eines kontemplativen Momentes verzichtete Herzogenberg hier auf eine Vertonung mit großem instrumentalem Aufwand, wie sie seit dem 18. Jahrhundert gemeinhin üblich war. Ungewöhnlich, aber reizvoll ist auch die in einer Doppelfuge zusammengefaßte Behandlung der Textabschnitte Cum sancto spiritu und Quoniam tu solus sanctus.
Zentrum und kompositorischen Höhepunkt der Messe bildet das Credo (E-Dur). Nahezu die gesamte Faktur dieses Satzes wird von einer achttönigen gregorianischen Intonationsformel bestimmt, die im Orchester in vielfach modifizierter Gestalt erscheint. Originell umgesetzt ist die Textstelle Et unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam; vom Chor einstimmig deklamiert, wird sie von langen Halteakkorden im Orchester begleitet, hinter denen sich erst bei genauerem Hinhören die Tonstufen der gregorinanischen Intonation zu erkennen geben. Zu den Juwelen der Messe gehört das höchst intime Et vitam venturi saeculi am Ende des Credo. Diese Meßworte entgegen aller Konvention mit einem Doppelfugato von geradezu transzendenter Ausstrahlung darzustellen, zeugt von einer eigenen theologischen Sichtweise des Komponisten. Die Rafinesse der kontrapunktischen Arbeit, wie sie im Credo begegnet, weist Herzogenberg als fundierten Kenner Bachscher Choralbearbeitung aus. Ein Satz wie dieser ließe sich als Hommage an die Zeit der von Spitta angeregten Beschäftigung mit Bachs Musik deuten. Das gestalterische Konzept des Credo ist in der oratorischen Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts ohne Beispiel.
Das folgende Sanctus (C-Dur) ist der einzige Meßsatz ohne Beteiligung des Solistenquartetts. Der Eindruck starker Verinnerlichung des liturgischen Textes fällt hier gegenüber den vorangehenden Sätzen ein wenig ab. Verstärkt wird der auffallend affirmative Zug des Sanctus durch das Stilmittel der Einstimmigkeit, das in zeitweiliger Oktavkopplung der Chorstimmen seinen Ausdruck findet.
Im Benedictus (As-Dur), dem musikalisch konventionellsten Satz der Messe, herrscht ein auf Kantabilität angelegtes Klangbild vor; stilistisch weist es auf Beethoven und Schubert zurück. Wie in den anderen Sätzen wird dem Solistenensemble auch hier breiter Raum geschenkt. Gegenüber dem Chorpart besteht Gleichwertigkeit, denn niemals kommt es zur Verselbständigung einzelner Solostimmen im Sinne eines effektsuchenden virtuos-konzertanten Prinzips.
Zu den großartigsten Sätzen innerhalb des oratorischen Schaffens von Herzogenberg gehört das abschließende Agnus Dei (e-Moll/E-Dur). Zwei lyrische Themenkomplexe verbinden sich zu einer organischen Einheit. Das erste, kirchentonal geprägte Thema (Agnus Dei, Soli) verschränkt sich mit dem Miserere nobis (Chor) und wird kunstvoll in verschiedenen Kanontechniken durchgeführt. Der zweite Gedanke (Dona nobis pacem) entfaltet sich zu einer Art Epilog; in Ruhe verströmender Feierlichkeit führt diese breit ausgesungene Bitte um Frieden ein Werk zu Ende, das als ein Widerhall großer Verzweiflung begonnen hatte.
 
Mit einer ausgewogenen Wechselbeziehung zwischen chorischen und solistischen Partien, einem volltönigen, aber nie vordergründigen Orchestersatz, einer sich mühelos entfaltenden Kontrapunktik, einer kantablen Melodik sowie einer gemäßigt spätromantischen Harmonik gelang dem Komponisten eine individuelle und zu großen Teilen überzeugende musikalische Durchdringung des liturgischen Textes. Die Messe e-Moll für Soli, Chor und Orchester - übrigens eines der letzten bedeutenden Werke in der Geschichte dieser Gattung - läßt erkennen, daß sich Herzogenberg aus dem Kreis wirklicher Kleinmeister weit heraushebt und daß es eine lohnende Aufgabe ist, diesen Komponisten wieder im Konzertleben der Gegenwart zu etablieren.

Bernd Wiechert

Der vollständige Text der Messe
 

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