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Daniel Zbinden

Herzogenberg: «Dainu Balsai»

Litauische Volkslieder für Klavier zu vier Händen op. 76

Eine Werkeinführung

 

Im Jahre 1892 schreibt der aus Graz stammende Berliner Hochschulprofessor Heinrich von Herzogenberg an seinen Freund Johannes Brahms, er habe sich nach dem frühen Tode seiner Frau „sofort in Arbeiten eingebohrt und hoffe, nicht wieder daraus erwachen zu müssen“. Als Frucht dieser Trauerarbeit entstanden zeitgleich zwei höchst unterschiedliche Werke: das ergreifende Klavierquartett in e-Moll (op. 75) und „Dainu Balsai, Litauische Volkslieder für Pianoforte gesetzt“ (op. 76).

Herzogenberg wurde 1891 durch einen Aufsatz seines Freundes Philipp Spitta, des Begründers der modernen Musikwissenschaft, auf die in zwei Teilen 1886 und 1889 veröffentlichte Sammlung litauischer Volkslieder von Christian Bartsch aufmerksam. Der litauische Titel dieses Werkes bedeutet „Stimmen der Lieder“ und ist wohl eine Hommage an die „Stimmen der Völker in Liedern“ von J. G. Herder. Die „Dainu Balsai“ von Chr. Bartsch mit ihren 392 Liedern sind als die erste umfangreiche Sammlung mit angemessener Berücksichtigung der Melodien zu betrachten (gegenwärtig sind in Litauen 400 000 archiviert). Hingegen dürfte der Klavierzyklus von Herzogenberg desselben Titels, sieht man von wenigen litauischen Melodien in Chopins Werk ab, die erste von litauischer Folklore inspirierte Kunstmusik sein. Die Auseinandersetzung mit litauischer Poesie setzte allerdings bereits im 18. Jahrhundert ein, als Lessing, Herder und Goethe litauische Lieder in ihre Werke aufnahmen und sich lobend über diese Volkspoesie äußerten. Ihre Blüte erlebte sie ab 1825 mit der sprachwissenschaftlichen Entdeckung des Litauischen als eigenständiger baltischer Sprache, was Linguisten zur Erforschung dieser archaischsten aller indogermanischen Sprachen veranlasste.

Schon den Wissenschaftlern jener Epoche fiel auf, dass im Gegensatz zur männerdominierten nordischen und slawischen Volkspoesie die litauische eher weiblich orientiert und, wie Spitta schreibt, von „Naturempfinden“ und „Erotik“ erfüllt ist. Den Freuden und Leiden des Land- und Liebeslebens kommt hier mehr Bedeutung zu als Heldensagen, Phantastik oder Jagd- und Trinkliedern. Die Jugend genießt in Nr. 2 und 7 die Liebe, wird in Nr. 9 vor der Ehe gewarnt, und setzt sich in Nr. 6 gegen die Eltern durch. Männer schlagen ihre Frauen (Nr. 4), wobei gewisse Lieder (Nr. 7) auch Varianten haben, in denen Männern das gleiche Schicksal beschieden ist. Ergreifend sind die Lieder, in denen junge Frauen über ihr Schicksal klagen: das bettelnde Mädchen in Nr. 3, die traurigen Schwestern in Nr. 11 und das Mädchen in Nr. 14. Letzteres wünscht sich, die verhassten Eltern hätten es ins Wasser geworfen, und stellt sich vor, wie es auf diese Weise einen Fischerburschen hätte finden können!

Wie lässt sich litauische Bauernmusik für Brahms-Ohren bearbeiten, wie auf dem Klavier spielen? Bartsch und andere Feldforscher, welche sich von einheimischen Bauern vorsingen ließen, klagten über die Unmöglichkeit, die Feinheiten des Ausdrucks mit unserer Notation wiederzugeben, zogen jedoch hinsichtlich des Fehlens von Extremen bei Tempowahl und Interpretation metaphorische Vergleiche zum eher flachen Litauen, dessen Landschaft ebenfalls wenig dramatische Elemente aufweist. Auch erwähnten sie, dass ein Lied oft regional unterschiedlich vorgetragen werde, es musikalische Varianten aus verschiedenen Jahrhunderten habe und zu verschiedenen Texten gesungen werde. Die daraus ableitbaren Freiheiten nimmt sich Herzogenberg, indem er in Nr. 5 das Wunder vom im Sommer zugefrorenen Teich als träumerisches Larghetto vertont, während es die Litauer noch heute als fröhliches Volkslied in zügigem Tempo singen. In Nr. 15 verwandelt er ein Spottlied in ein ergreifendes Duett im Brahms-Stil und überschreibt in Nr. 16 eine Andantino-Melodie mit „Allegro“, um die übermütige, vom Auswandern nach Berlin singende Dorfjugend zu charakterisieren.

Zu Herzogenbergs wissenschaftlichen Vorhaben zählte die Urtext-Ausgabe aller Komponisten nach J. S. Bach, wobei „Urtext“ ein damals neuer Begriff einer noch umstrittenen Idee. Jedoch war ihm bewusst, dass man mit den musikalischen Rohdiamanten der Volkskunst anders verfahren musste. So hat Herzogenberg die kurzen Lieder meist formal abgerundet und durch Variationen ergänzt. Dabei schenkte er durchaus würdigende Beachtung der Tatsache, dass die klassische Formgestaltung mit 2, 4 oder 8 Takten in litauischen Liedern oft durch Fünftaktgruppen (Nr. 3 und 12) oder Dreitaktgruppen (Nr. 4) bereichert wird, da auch seine eigenen Werke derartige Stilmittel enthalten.

Dass der Interpret bei der Aufführung jedes Musikwerks gewisse Freiheiten besitzt, hat übrigens niemand deutlicher betont als Herzogenberg selbst. Als man im Jahre 1895 in Preußen darüber diskutierte, ob man eigene Institute zur Anfertigung von Tonträgern einrichten sollte, schrieb der als Gutachter konsultierte Professor:

„Und würden wir mit Hilfe alter Phonogramme, die Temponahme und den Vortrag z. B. Bachscher Stücke auch ganz wiederaufleben lassen können, so wäre dies doch für die Art, wie wir heutigen Menschen Bach empfinden und zu verstehen haben, nicht ausschlaggebend. Denn jede Zeit besitzt die Werke früherer Epochen in einer neuen, ihr eigenen und vollberechtigten Weise, und selbst der Autor hätte kein Recht, sie durchs Phonograph in diesem gegenwärtigen Genuss und Besitz zu stören.“

Herzogenbergs generelle Ablehnung des Festschreibens von Musik auf Tonträgern, die er als „mumifizierte Leichen“ bezeichnete, hat uns allerdings nicht daran gehindert die „Dainu Balsai“ (womöglich als Ersteinspielung) dennoch herauszugeben.

Daniel Zbinden

Der Link zur CD mit «Dainu Balsai» mit dem Klavierduo Wilma und Daniel Zbinden   

 

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