Herzogenberg und Heiden  
Übersicht
 
• Der Komponist,
  sein Umfeld,
  seine Zeit
Werkverzeichnis
   - nach Gattungen
   - nach Opuszahlen
• Musikwissenschaftl. Beiträge, 
  Werkeinführungen, Analysen

Briefwechsel/Transkriptionen
• Herzogenberg-Gesellschaft
Herzogenberg-Freundeskreis
• aufgelöst: Herzogenberg-Fonds 
Herzogenberg-Konzerte & Zyklen
in Heiden     andern Orts  
• au
f YouTube
Gönner der Sache
Herzogenberg
und
der Konzertreihen
CD-Kiosk
• Bücher
Musikverlage
Herzogenberg-Noten:
Werkliste, Bestellungen,
Verlage,
gratis Download
Links
 

 

 

Heinrich von Herzogenbergs Choralkantate «Gott ist gegenwärtig» op. 106

komponiert mit Blick auf den Bodensee

Eine Einführung von Prof. Dr. Konrad Klek

Seit einem Sommerferienbesuch Friedrich Spittas (1852-1924) 1893 im Schweizer Sommerhaus von Heinrich von Herzogenberg (1843-1900), in Heiden (Kanton Appenzell, über Rorschach) gelegen, verband den Straßburger Theologieprofessor und den Berliner Kompositionslehrer eine intensive freundschaftliche Zusammenarbeit in Sachen evangelische Kirchenmusik. Nach den
Liturgischen Gesängen op.81 waren die beiden Kirchenoratorien Die Geburt Christi, op.90, und Die Passion, op.93, auf Textvorgaben Spittas entstanden. Im Sommer 1896 hatte Spitta dann die Textvorlage für das dritte und größte Oratorium Erntefeier, op.104, mit nach Heiden gebracht, was den Komponisten zwei Jahre lang beschäftigten sollte. – Alle diese drei Oratorien wurden durch die Kantorei der Schlosskirche Friedrichshafen in den letzten Jahren aufgeführt. -

Als Herzogenberg Mitte Juni 1897 wieder nach Heiden kommt, hat er seine Geburtstagspost zum 10.06. in der Tasche. Darunter befindet sich ein Brief von Friedrich Spitta, in welchem dieser dem Freund als „etwas seltsames Angebinde“ Melodie und Text des Liedes Gott ist gegenwärtig „auf den Geburtstagstisch“ legt, die Dichterworte emphatisch als geradezu nach Musik rufend preist und schließlich suggestiv fragt: „Wie wäre es mit einer Choralkantate für das Tersteegen-Jubiläum?“ - Am 25.11.1897 stand der 200.Geburtstag von Gerhard Tersteegen (1697-1769) an, dessen am meisten gesungenes Lied damals wie heute Gott ist gegenwärtig ist (vgl. Evang. Gesangbuch Nr. 165). – Spitta rechnet mit besonderem Interesse für solch eine Komposition im Stammland Tersteegens, Rheinland-Westfalen, und schlägt eine große Besetzung mit Soli, Chor, Orgel, Instrumenten vor. Für die beiden Rahmenstrophen und evtl. Strophe 4 schlägt er Gemeindegesang vor.

Am 21.Juni reagiert Herzogenberg: „Kaum angelangt in unserem guten, kleinen Heiden zog ich Tersteegen aus der Tasche und besah mir die Sache. Das Gedicht ist von seltener Schönheit und Tiefe, die Melodie aber von geringem Ausdruck; die spielerischen Tonwiederholungen haben etwas Instrumentales an sich und würden trotz aller Bearbeitungskunst eine gewisse Monotonie erzeugen ...“ Er weist den Auftrag aber nicht definitiv ab: „Dies ist der erste Eindruck; vielleicht gewinne ich der Sache doch noch etwas ab.“ Am 2.Juli schon geht die Botschaft nach Straßburg ab: „Mit Tersteegen geht’s plötzlich, und gar nicht übel.“ – Auf dem Titelblatt der Partitur notiert er dann als Entstehungszeitraum 20.Juni bis 15.Juli 1897. Damit gehört diese Choralkantate wie das 1894 in gut vier Wochen komponierte Weihnachtsoratorium zu den schnell gediehenen Heidener Sommerfrüchten.

Mit Spittas Vorgaben ist Herzogenberg durchaus eigenständig umgegangen. Er hat ganz auf Soli verzichtet und beschränkt die Instrumentation neben der obligaten Orgel auf Streicher mit zwei Trompeten, drei Posaunen und Pauke. So erreicht er eine mit dem Text korrespondierende, spezifische Majestäts-Charakteristik. Die Gemeinde lässt er mit vier Strophen sich beteiligen und betont so das von Freund Spitta verfochtene Prinzip des Miteinanders von Chor und Gemeinde im „Wechselgesang“.

Als Spitta Ende August nach Heiden kommt, empfängt ihn die fertige Partitur. Aus dem Straßburger Dankbrief vom 13.September nach seiner Rückkehr geht hervor, dass er das Manuskript gleich mitnehmen durfte und auf der Reise wie als persönliches Geleit durch dessen Autor erlebt hat. Am Totensonntag, 21.November, bringt Spitta mit dem von ihm selbst gegründeten und geleiteten Akademischen Kirchenchor die Choralkantate Gott ist gegenwärtig in der Straßburger Thomaskirche zur Uraufführung. In der Abendmusik erklingen außerdem Bachs Choralkantate Was mein Gott will, das g’scheh allzeit und von Brahms der Begräbnisgesang op.13. Herzogenberg schickt am Tage selbst in Berlin eine Postkarte ab: „Gern hätte ich zwei Flügel, oder wenigstens telephonischen Anschluss für heut Abend.“ Als eine prompte Erfolgsmeldung aus Straßburg ausbleibt, hakt er mit einer ungemein witzigen Postkarte nach, um schließlich mit Post vom 30.November die Nachricht zu erhalten, von den drei Kompositionen des Abends hätte die Seinige „den stärksten Eindruck“ gemacht. 

Herzogenbergs Verleger Rieter-Biedermann in Leipzig bringt das Werk im Jahre 1900 zum Druck, es erscheint allerdings erst nach dem Tod des Komponisten (9. Oktober). An den Druckvorbereitungen war er noch bis vier Wochen vor seinem Tod beteiligt, wie erhaltene Verlagskorrespondenz belegt. Widmungsträger ist mit Arnold Mendelssohn (1855-1933) ein weiterer Freund Spittas, schon aus früheren gemeinsamen Jahren in Bonn (1880-83), der nun als Kirchenmusiker in Darmstadt tätig ist. Er hat das Werk ebenfalls bereits aus dem Manuskript aufgeführt und schreibt dann eine wunderbare Rezension in der von Spitta redigierten Monatschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst. Darin heißt es:

„Es ist bewundernswürdig, was er aus der scheinbar nicht sonderlich ergiebigen Melodie herauszuholen verstanden hat. Namentlich ist es die abwärts steigende Sequenz zu Beginn des Abgesangs, die ihm zu reizvollen und überraschenden Wendungen Anlass gegeben hat. Vers drei („Wir entsagen willig allen Eitelkeiten“) ist ein lieblicher Zwiegesang der beiden oberen Chorstimmen, von schön verschlungenen Triolenfiguren des Streicherchors und sanften Harmonien der Orgel begleitet. Die Melodie liegt etwas variiert in den Singstimmen. Grandios setzt Vers fünf („Luft, die alles füllet“) ein. Die Melodie, rhythmisch gedehnt und in markigen Synkopen einherschreitend, ist dem Bass des Orchesters und der Orgel überwiesen und durch Posaunen verstärkt. In die rauschenden Arpeggien der Geigen und Bratschen ruft der volle Chor die Verkündigung der Gottesschau. Wie da die brausenden Wogen der Begeisterung zu heiliger Stille ebben, wie alles erstirbt, um aufs neue emporzuflammen, bis die Tonfluten sich zum Schluss in visionärem Pianissimo verlieren, das ist bewunderungswürdig und wahrhaft ergreifend. Die sechste Strophe („Du durchdringest alles“), wiederum ein schöner Zwiegesang, dieses Mal der Männerstimmen in neuer rhythmischer Gestaltung, ist technisch ähnlich gearbeitet wie Vers drei, wodurch eine gewisse Symmetrie des Ganzen erzielt wird. Vers sieben („Mache mich einfältig, innig abgeschieden“) bildet die Musik von Vers sechs weiter aus; die Frauenstimmen beteiligen sich, und schöne kontrapunktische Kombinationen stellen sich ungezwungen im Fluss der motivischen Arbeit ein. Das Dämmerlicht des Satzes wird von leisen Posaunen- und Trompetenklängen geheimnisvoll erhellt, charakteristische Violinfiguren schlingen sich auf und ab durch den Gesang des Chores, bis nach leisem Verklingen des zauberischen Stückes der vom vollen Orchester begleitete Schlussvers von der Gemeinde eingesetzt wird und das Werk prächtig krönt.“

 

Hier der Liedtext von Gerhard Tersteegen

  Das Fernsehen ZDF hat am 28. August 2012 eine Life-Übertragung der Choralkantate «Gott ist gegenwärtig» op. 106  gesendet. Hier der Link zur Fernsehsendung.

zurück zum Werkverzeichnis

 

nach oben  Übersicht