Herzogenberg und Heiden
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Im Lexikon «Musik in Geschichte und Gegenwart», 2.Auflage, ist im Dezember 2002 der Herzogenberg-Artikel erschienen. Da der Lexikon-Text ohne Rücksprache mit dem Autor von der Redaktion verändert und vor allem durch Aufnahme von Passagen aus dem Artikel der 1.Auflage in sich widersprüchlich und in einigen Details sachlich falsch geraten ist, sei hier die Vorlage des Autors wieder gegeben.
(Der Lexikon-Artikel im Band 8 des Personenteils enthält außerdem, von Bernd Wiechert zusammengestellt, ein Werkverzeichnis und eine aktuelle Literaturauflistung.)
 
Herzogenberg, Heinrich von, *10.Juni 1843 in Graz, + 9.Okt.1900 in Wiesbaden. Er gehörte zu einer franz. Adelsfamilie mit Namen Picot de Peccaduc, die nach der Flucht im Zuge der Revolution vorwiegend in militärischen Ämtern der Habsburger-Monarchie diente und seit 1811 den eingedeutschten Namen von Herzogenberg führte. Nach dem frühen Verlust des Vaters (1846) von der Mutter in seiner eigenständigen Entwicklung behutsam gefördert, durchlief H. Schulstationen an versch. Orten, darunter zwei Jahre im Feldkircher Jesuitenkolleg, um sich 1862 der Familientradition gemäß in Wien zum Jurastudium einzuschreiben. Gleichzeitig wurde er Schüler des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde in der Kompositionsklasse von Felix Otto Dessoff. Nach zwei Semestern verließ er die Universität, beschloss aber das Musikstudium im Sommer 1865 mit Auszeichnung. Anschließend unternahm er eine Studienreise nach Dresden, Leipzig und Berlin mit Kontakten u.a. zu Julius Rietz, Moritz Hauptmann, Friedrich Kiel und Robert Radecke. Im Sommer 1866 nach Wien zurückgekehrt, folgten Studien im strengen Satz bei Gustav Nottebohm, ehe er sich in seiner Heimatstadt Graz als freischaffender Komponist niederließ. 1868 heiratete er Elisabeth von Stockhausen, Tochter des hannoverschen Gesandten am Wiener Hof, Bodo von Stockhausen, die als musikalisch Hochbegabte Klavierschülerin von Julius Epstein und kurzzeitig auch von J.Brahms gewesen war. Mit Brahms war Herzogenberg bereits 1863 im Hause Dessoffs bekannt geworden. Seiner Empfehlung verdankte er dann die Drucklegung seiner ersten Werke bei Rieter-Biedermann in Leipzig.

Im Rahmen der örtlichen Musikinstitutionen trat Herzogenberg in Graz auch mit größeren Werken (Kantate Columbus, Sinfonie Odysseus) erfolgreich an die Öffentlichkeit, übersiedelte jedoch 1872 nach Leipzig. Hier prägte die enge Verbindung mit Alfred Volkland, Franz von Holstein und im besonderen Philipp Spitta den weiteren Weg und führte bald zu einer künstlerischen Neuorientierung. Mit den genannten gründete H. 1874 den Bach-Verein zu Leipzig, dessen musikal. Leitung er 1876 selbst übernahm und fast zehn Jahre lang neben seiner umfangreichen Kompositionstätigkeit mit großem Engagement versah. In Leipzig pflegte das Ehepaar Herzogenberg rege gesellschaftliche Kontakte, war Sammelpunkt der Brahms-Gemeinde und nahm - selber kinderlos - Ethel Smyth als Kompositionsschülerin und Haustochter auf.

Auf Betreiben von Joseph Joachim und Ph. Spitta ging Herzogenberg 1885 nach Berlin zunächst als Vertreter, dann als Nachfolger Friedrich Kiels. Er war Leiter der Kompositionsabteilung an der Kgl. Hochschule für Musik, außerdem Vorsteher einer Meisterschule für Komposition und Senator an der Akademie der Künste. Ein Arthritisanfall erzwang ab 1887 Heilmaßnahmen (u.a. Resektion einer Kniescheibe) an verschiedenen Orten und bedingte eine über zweijährige Niederlegung der Ämter. Bei seiner Rückkehr im Herbst 1889 konnte Herzogenberg nur teilweise in seine früheren Stellungen eintreten, wurde aber im Januar 1890 zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Künste gewählt. Eine Verschlimmerung des Herzleidens seiner Frau führte im Herbst 1891 zur erneuten Preisgabe der Ämter, um Elisabeth von Herzogenberg nach San Remo begleiten zu können, wo sie am 7.Januar 1892 im Alter von 44 Jahren verstarb. Seit Herbst 1892 wieder in Berlin, blieb Herzogenberg zunächst nur der Senatorenstatus. Neben anderen musikwissenschaftlichen Arbeiten übernahm er die Projektleitung der von der Akademie veranlassten Urtext-Ausgaben classischer Meisterwerke. Nach dem Tod Woldemar Bargiels konnte er 1897 alle früheren Aufgaben wieder übernehmen. Als Dirigent der zuvor von Ernst Rudorff geleiteten Musikalischen Gesellschaft war er im März 1893 mit der Uraufführung der zum 1.Todestag seiner Frau komponierten Todtenfeier op.80 erneut als Chorleiter tätig geworden. Im November 1898 setzte ein weiterer Arthritisanfall allen Tätigkeiten ein Ende. Herzogenberg fuhr zu Bäderkuren u.a. nach Wiesbaden, wo er schließlich Wohnung nahm und am 9.Oktober 1900 verstarb. Obwohl nach dem Tod der Gattin noch mehr wichtige Bezugspersonen starben - Ph. Spitta 1894, Clara Schumann 1896, J. Brahms 1897 - waren die letzten Lebensjahre reiche Schaffensjahre. Große Bedeutung gewannen die Sommeraufenthalte in dem noch mit Elisabeth von Herzogenberg geplanten und 1892 fertig gestellten Haus Abendroth in Heiden/Schweiz. Aus der dort 1893 geknüpften Freundschaft mit dem Straßburger Theologen Friedrich Spitta resultierte das kompositorisch fruchtbare Engagement für die protestantische Kirchenmusik. Wesentliche Unterstützung erfuhr Herzogenberg von Helene Hauptmann (Tochter des Thomaskantors Moritz Hauptmann), die für den Witwer die Führung des Haushalts übernommen hatte.
 
«Es gibt keinen lebenden Künstler, der fester als er auf der breiten Grundlage ruhte, welche die gesamte deutsche Musik der Vergangenheit und Gegenwart zusammengefügt hat.» Dieses Zeugnis Ph. Spittas (1892, 443) würdigt die rezeptive Grundhaltung des Komponisten Heinrich von Herzogenberg, der von seinen Zeitgenossen als umfassend gebildeter Gesprächs- und Briefpartner geschätzt wurde. Unter den meinungsbildenden ästhetischen Prämissen der Epoche führte diese Attitüde allerdings zur verbreiteten Taxierung seines Schaffens als Akademismus oder speziell als Brahms-Epigonentum. Letzteres hat Herzogenberg durch seine vielfach artikulierte Verehrung «des Einzigen» selbst mit verursacht.
Zunächst mit Klavierstücken und Liedern in Schumannschen Bahnen angetreten, hatte Herzogenberg sich in Graz auf wagnerisches Fahrwasser eingelassen, um schließlich in Leipzig seinen definitiven Weg zu finden: «... und faßte dort unter mannigfaltiger Anregung meine Kräfte neu zusammen. ... In den nun folgenden Jahren baute ich die Fundamente meines Könnens auf sicherem Grunde von Neuem auf.» (Autogr. Vita, zit. bei Wiechert, 1997, passim). Neben dem ideellen Vorbild J. Brahms, mit dem das Ehepaar Herzogenberg in der Leipziger Zeit eine intensive, aber von Verstimmungen nicht freie Freundschaft aufbaute (dokumentiert u.a. im Briefwechsel, hg. v. M. Kalbeck 1907), muss namentlich die Bach-Rezeption, in eigener Chorleitungspraxis vitalisiert und im steten Austausch mit Ph. Spitta reflektiert, als prägend eingestuft werden. Wichtige Referenzen sind außerdem H. Schütz, wiederum durch Spitta vermittelt, die Klassiker mit Beethoven an der Spitze und weiterhin Schumann als stil- und formprägender «Romantiker». Hier war durch die Freundschaft mit Clara Schumann auch eine persönliche Beziehung gegeben. (Vgl. Herzogenbergs Mithilfe bei der Publikation von R. Schumanns Jugendbriefen.) Die aus solchem «Zusammenfügen» resultierende Stileigentümlichkeit wurde unter dem Diktat des Epigonen-Urteils bisher nicht hinreichend erforscht und benannt. Die zunehmende Präsenz von Herzogenbergs Musik im Konzertleben und noch mehr auf Tonträger, eine Folge auch des Gedenkjahres 2000, schafft hierfür eine breitere Basis.

Innovatives ist bei Herzogenberg allerdings nicht zu erwarten: «Ich bin und bleibe: ein Volontair» (Selbsteinschätzung Herzogenbergs 1884, zit. bei Wiechert, 1997, 252). Wohl aber ist im Kontext eines stets beziehungsreichen Satzbildes sehr viel Originelles zu entdecken: in der Klaviermusik ein oft humorvolles Spiel mit Kleinformen (z.B. Bevorzugung der Gavotte, Titel Allotria op.33, Dainu Balsai - einfache litauische Volksliedbearbeitungen op.76), in der Kammermusik für seine Zeit untypische Besetzungen (op.27 Streichtrio, op.43 Bläserquartett mit Klavier, op.61 Klaviertrio mit Horn und Oboe, op. 62 Viola mit Klavier) und ein gegenüber Brahms durchaus eigenständiger Tonfall: Spitta nennt das einen «treuherzigen, volkstümlichen Ton» (aaO 443). Dem gegenüber weisen Moll-Sätze oft eine packende Rhythmik auf (Schlusssätze der Klaviertrios op.24 und 36). Im Bereich des lebenslang gepflegten Klavierliedes beweist Herzogenberg ein herausragendes Gespür für die feinen Nuancen der literarisch hochstehenden, vorwiegend romantischen Texte (Lieblingsdichter: Eichendorff), verbunden mit elementarer Sanglichkeit. Während er im symphonischen Bereich seit Leipzig zurückhaltend agierte und lediglich zwei Symphonien im Druck präsentierte, brachte er es in der Chorsymphonik zu einer spezifischen Meisterschaft mit ergiebigem Ertrag: An den stilbildenden Psalm 94 op.60 mit Doppelchor schließen an das Gelegenheitswerk Königspsalm op.71, die in wenigen Tagen konzipierte Todtenfeier op.80 und die als Memorial für Ph. Spitta entworfene große Messe op.87. Einen dazu polaren Ton bringt das Requiem op.72, in Cherubini-Tradition ohne Solisten. Die zusammen mit Friedrich Spitta konzipierten Chorwerke kirchenmusikalischer Bestimmung (Liturgische Gesänge, Choralkantate op.106, Kirchenoratorien, Biblische Szenen) zeigen in je unterschiedlicher Konkretion von Satztechnik, Besetzung und Stil eine eigentümliche, hoch zu bewertende Kunst der Selbstbeschränkung im Dienste des direkten Lebensbezuges von Musikpraxis, ehe mit dem Schlussstein des groß angelegten Oratoriums Erntefeier op.104 noch einmal die gesamte künstlerische Potenz zur Entfaltung kommt. Originalität zeigt der Katholik Herzogenberg hier etwa in der facettenreichen, weit über das c.f.-Schema hinausgehenden Verwendung des protestantischen Chorals als musikalischem Sujet (vgl. die an Choralmelodien angelehnten Rezitative der Passion oder das Nun danket alle Gott-Motto in der Einleitung der Erntefeier), aber auch in der überzeugenden Dramaturgie der Großwerke, welche die frühere Wagner-Erfahrung in Disposition und Harmonik integriert (beachte die Harmonik in den Rezitativen der Passion). Von der sukzessiven weiteren Erschließung des jahrzehntelang nicht greifbaren Aufführungsmaterials der großen Chorwerke kann eine zunehmende Herzogenberg-Rezeption erwartet werden.

Weitere Facetten der Wirksamkeit Herzogenbergs mit bleibender Bedeutung sind sein Eintreten für die reine Intonation im Chorgesang, analog dazu das Experimentieren mit reinen Stimmungen auf Tasteninstrumenten (Harmonien mit Subsemitonien), die Zuarbeit für Ph. Spitta bei Bachkantaten- (stilbewusster Orgelsatz) und Schütz-Ausgaben (Ergänzung von Stimmen), die schriftstellerischen Beiträge für die von Fr. Spitta mit redigierte Monatschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst (seit 1896) und über all diesem der rege Austausch des Hauses Herzogenberg mit vielen Persönlichkeiten des kulturellen Lebens. In der umfangreichen Korrespondenz, von der bislang lediglich der Briefwechsel mit Brahms umfassend ediert ist, erschließt sich ein faszinierendes Bild der Kommunikationskultur der Zeit, welches die am Einzelgenie orientierte Musikgeschichtsschreibung korrigieren und dabei nicht zuletzt Elisabeth von Herzogenberg als Mediatorin eine herausragende Rolle zuerkennen muss.

Konrad Klek

 

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