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Heinrich von Herzogenberg:
Klaviertrios op. 24 und op. 36

Als Johannes Brahms sich noch zierte, seine erste Symphonie zu komponieren, da rechtfertigte er sein Zaudern mit den gewaltigen Schritten des Riesen Beethoven, den er hinter sich zu hören vermeinte - ein zweifellos ungefährlicher, weil gewissermaßen geisterhafter Verfolger und zugleich ein Stern erster Größe, den man gut und wirksam als Entschuldigung für Selbstkritik und Selbstzweifel hernehmen konnte. Wer hätte Brahms schon dafür rügen wollen, daß er den edlen Wettstreit mit dem Titanen nicht anzutreten bereit war? Der Held war tot und ließ sich zu allen erdenklichen Interpretationen mißbrauchen ...
 
Ganz anders sieht es aus, wenn sich das gewählte Vorbild bester Gesundheit und Kreativität erfreut. In diesem Fall wird der Altar, an dem man seine Opfergaben darbringt, zum Schreibtisch, an dem briefliche Repliken entstehen, deren Tonfall nicht nur nicht erbaulich, sondern unter Umständen sogar im höchsten Maße entmutigend sein kann. Antwortschreiben also von jener Art, für die ein so spröder Charakter wie ausgerechnet der vermeintlich so skrupulöse Johannes Brahms, der norddeutsche Wiener, berühmt war.
 
“So verzeihen Sie also, wenn mein Dank früher anfängt, und mein Urteilen früher aufhört, als Sie es wünschen”, schrieb er am 20. August 1876 dem zehn Jahre jüngeren Kollegen Heinrich von Herzogenberg, der sich “unterstanden” hatte, ihm seine Variationen über ein Thema von Johannes Brahms op. 23 zu widmen und zuzusenden - in der letztlich vergeblichen Hoffnung, der spröde Wiener aus Hamburg möchte doch endlich einmal ein gutes Haar an seinen Sachen finden.
 
Gewiß, ein derart renommierter Komponist wie Johannes Brahms dürfte von Klinkenputzern aller Art mit Machwerken der unterschiedlichsten Couleur überschüttet worden sein, und so hätte man eine höfliche Distanz durchaus verstehen können, wenn, ja wenn Herzogenberg und sein selbsternanntes Vorbild Nr. 1 nicht schon seit Jahren miteinander bekannt oder gar (wie in manchen Lexika zu lesen ist) befreundet gewesen wären.
 
Vor dem Hintergrund der Biographien aber wirkt die Haltung äußerst befremdlich. Denn der Künstler, der am 10. Juni 1843 in Graz als Sproß einer aus Frankreich stammenden Adelsfamilie (de Peccaduc) und Sohn des k.k. Kämmerers und Gubernialsekretärs August von Herzogenberg geboren wurde - dieser Künstler hatte Brahms bereits während der frühen 1860er Jahren in Wien kennengelernt, nachdem er sich vom Jura- und Philosophiestudium abgekehrt und bei Felix Otto Dessoff sein Kompositionsstudium aufgenommen hatte. Damals war der Freund seines Lehrers bei dem Leipziger Verlag Biedermann vorstellig geworden, um dem jungen Kollegen den Weg für eine förderliche Geschäftsbeziehung zu ebnen. Er muß also in den ersten, noch ganz aus dem Geiste der frühen Romantik geschaffenen Werken ein mehr als durchschnittliches Talent entdeckt haben, andernfalls er gewiß das Gewicht seines Namens nicht in die Wagschale geworfen hätte.
 
Fürs erste erschöpfte sich darin Herzogenbergs Beziehung zu Brahms. Rund ein Jahrzehnt vergeht ohne persönlichen Kontakt, und als sich die beiden Männer im Frühjahr 1874 beim Leipziger Brahms-Fest wiedersehen, hat sich in Herzogenbergs Leben und Schaffen viel verändert. Seit 1868 ist er mit Elisabeth von Stockhausen verheiratet, der Tochter des hannoverschen Gesandten am Wiener Hofe und ehemaligen Brahms-Schülerin. Beinahe fünf Jahre hat er mit ihr in seiner Heimatstadt Graz zugebracht, wo er unter anderem mit den Premieren seiner Kantate Columbus und seiner Symphonie Odysseus vielversprechende Erfolge feiern konnte. Um diese Zeit muß sich allerdings eine grundlegende, fast mysteriöse künstlerische Wandlung vollzogen haben, die Heinrich von Herzogenberg selbst als “Häutung” bezeichnete und die ihn von einem eher auf Wagnerschen Spuren wandelnden “Neu=Österreicher” zu einem Brahms-Adepten hat werden lassen. 1872 übersiedelt das Ehepaar nach Leipzig, 1874 gründet Herzogenberg mit Philipp Spitta und anderen den Bachverein, dessen Leitung er ein Jahr später übernahm: Fortan sind es die Alten Meister und natürlich die Musik des beinahe blind bewunderten Vorbildes Brahms, denen seine nachschöpferische und schöpferische Aufmerksamkeit gilt.
 
Zuerst sind es drei und schließlich vier Personen, die Herzogenbergs musikalische Welt prägen: Seine Frau Elisabeth, Johannes Brahms, Philipp Spitta und dann auch dessen Bruder Friedrich, dessen Einfluß vor allem während der letzten Jahre des Komponisten zum Tragen kommt: Die seit langem herzkranke Elisabeth war 1892 in San Remo im Alter von nur 44 Jahren verstorben, und seit dem Verlust seiner innigsten Vertrauten richtete sich Herzogenbergs Interesse nicht zuletzt durch den Theologen Friedrich Spitta mehr und mehr auf die protestantische Kirchenmusik.
 
Den Tod seiner Gattin, seines Freundes Philipp Spitta (1894) und seines Leitsterns Johannes Brahms (1897) hat Herzogenberg nicht lange überlebt. Er starb am 9. Oktober 1900, nachdem er krankheitsbedingt all seine Ämter hatte niederlegen müssen.
In den Leipziger Jahren war von dem tragisch-frühen Lebensende noch nichts zu spüren. Tragisch war allenfalls die innere Abhängigkeit von jener Überfigur, der Herzogenberg nur zu deutlich nachzueifern, deren Anerkennung er vergebens zu erlangen trachtete - die Abhängigkeit von Johannes Brahms, die man eine Fixiertheit zu nennen sich kaum wird enthalten können.
 
Wie anders wäre zu erklären, daß Herzogenberg unmittelbar nach der unterkühlten Reaktion auf die 1875 entstandenen Klaviervariationen op. 23 mit einem Klaviertrio begann, das einem flüchtigen Hörer wie ein bis dato unbekanntes Werk aus Brahms’ eigener Feder anmutet? Bei oberflächlicher Betrachtung scheint tatsächlich jeder Takt zu sagen: “Schau doch her, ich kann’s!” Und womöglich war es genau diese Parallelität musikalischer Ereignisse, die Brahms - bewußt oder unbewußt - schreckte: Daß jemand in der Lage war, seinen eigenen Stil wo nicht zu kopieren, so doch so getreulich nachzuempfinden, daß der Ältere förmlich in einen Spiegel blickte, den ihm der Jüngere vorhielt, und damit, wenn man’s genau nimmt, mit seinen Selbstzweifeln, seiner Selbstkritik konfroniert wurde. Und wär könnte sich damit anfreunden?
 
Bemerkenswert ist die Resonanz anderer Kunstverständiger. Das Elisabeth von Herzogenberg gewidmete Werk, das am 23. Oktober 1877 in Wien uraufgeführt wurde, hatte beispielsweise für Philipp Spitta, mit dem Herzogenberg damals noch “per Sie” war, nichts epigonales, wie aus seinem Brief vom 9. Dezember desselben Jahres hervorgeht: “Ihr Claviertrio habe ich gleich nach meiner Rückkehr mehrere Male durchgespielt u. Mich sehr daran erfreut. Mich sprechen alle Sätze an, ganz besonders der zweite u. Dann der erste, aber mehr als das, ich halte es in seiner Tonalität für ein sehr gelungenes Werk u. Vielleicht für das beste Trio, das in neuester Zeit geschrieben ist ... Über meisterlicher Gestaltung u. geistreiche Arbeit kann man Ihnen nicht mehr sagen: in dieser Beziehung thun Sie auch dem verwöhntesten Geschmacke Genüge. Aber auch das eigentlich Belebende in einem Kunstwerk, die unmittelbar überzeugende Gefühlswärme, ist in diesem Trio viel stärker fühlbar, als in manchem Ihrer früheren Stücke. Und im Grunde ist es ja doch dieses allein, was ‘mit urkräftigem Behagen die Herzen aller Hörer zwingt’.”
 
Ziemlich genau fünf Jahre später erhält Spitta - man duzt sich inzwischen - die Meldung, daß ein zweites Trio vollendet sei: “Jetzt habe ich aber ein Clav.Trio fertig, das sich gewaschen hat; morgen spielen wir’s, dann laß ich Dir’s copiren ... (Herzogenberg an Spitta, 27. Oktober 1882). Und der Empfänger der Partitur weiß wieder nur Gutes zu sagen: “Ich habe große Freude an dem Trio. Es ist reich an Musik, und sehr rund u. übersichtlich in der Form. Die einzelnen Sätze stehen in lebendigem Contraste u. Das Ganze hinterläßt einen durchaus harmonischen Eindruck (Spitta an Herzogenberg, 28.12.82).
 
Trotz solcher Anerkennungen aber scheint der Komponist den allmählichen Rückzug angetreten zu haben, denn an den Widmungsträger des Klaviertrios op. 36, den niederländischen Physiologen Theodor Wilhelm Engelmann, schreibt er am 21. März 1884: “Mit dem Pathos ist’s eine gar zu eigene Sache! Wie schwer hält’s, bis man nur einmal von einem ausgewählten kleineren Kreis die Erlaubnis dazu bekömmt - und dann erst das Publicum! Auf’s Publikum verzichtet man ja gern, wenn man ein paar gute Leute hinter sich hat; ist dies aber auch nicht der Fall, dann bleibt einem nur das eigene Bewußtsein - wenn man eins hat!”
 
Viel muß hinter den Kulissen geschehen sein, um einen Künstler, der zu Beginn seiner Karriere das Podium mit großer Geste betrat und jetzt - kaum 15 Jahre nach dem verheißungsvollen Anfang - bereit ist, “auf’s Publicum” zu verzichten, um sich einer vermeintlich elitären, in Wahrheit aber resignierenden Haltung zu verpflichten. Mag man’s der Musik auch noch in keiner Weise anhören: Der scheinbar so noble Verzicht ist unverkennbar. Ob nicht doch das “eigene Bewußtsein” auf einem Altar geopfert wurde, der tatsächlich ein Schreibtisch war?
 

© Eckhardt van den Hoogen 2000
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Bernd Wiechert, dem Kenner, danke ich für seine dokumentarische Hilfe.

 
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