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Konrad Klek

Komponieren als Trauerarbeit:
Heinrich von Herzogenbergs «Totenfeier» op.80

06.10.2000, Vortrag bei der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung, Würzburg
 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

die große Frage, inwieweit konkrete Lebenszusammenhänge das künstlerische Schaffen bedingen, wird vor allem dann virulent, wenn ein Komponist von einem menschlichen Schicksalsschlag getroffen wird. Es wäre gewiß lohnend, die schaffenspsychologischen Auswirkungen von Todesnachrichten und persönlichen Verlusterfahrungen quer durch die Musikgeschichte zu erforschen. Ein ergiebiger Forschungsgegenstand diesbezüglich ist bestimmt das Schaffen Heinrich von Herzogenbergs, dessen 100.Todestag am kommenden Montag äußerer Anlaß für diese Studie ist.
        Heinrich von Herzogenberg war zeitlebens ein sehr Beziehungs-orientierter Künstler, entsprach also weniger dem Leitbild des ganz aus sich selbst heraus schaffenden Genies. So war er durch den Verlust von Beziehungen auch besonders verwundbar. Bernd Wiechert hat in seiner 1997 erschienenen, äußerst umsichtigen Studie zu Leben und Werk Heinrich von Herzogenbergs die vier für sein Schaffen entscheidenden Persönlichkeiten in ihrer konkreten Bedeutung beschrieben: Johannes Brahms, die Gattin Elisabeth von Herzogenberg, die Brüder Philipp und Friedrich Spitta. Bei drei von diesen vier Personen mußte Herzogenberg ins Grab blicken. Zunächst starb im Januar 1892 seine Frau erst 44-jährig an ihrem Herzleiden während eines Winteraufenthaltes in San Remo, dann zwei Jahre später im April 1894 Philipp Spitta, der 53-jährig von einem Herzschlag getroffen wurde. Mit ihm gleichsam als alter ego hatte Herzogenberg 20 Jahre lang alles Denken und Fühlen geteilt. Schließlich verlor er im April 1897 mit Johannes Brahms noch sein «ideelles Vorbild» über 35 Schaffensjahre als Komponist.
        Ein Blick allein auf die Werkliste Herzogenbergs liefert nun allerdings überhaupt keinen Anhaltspunkt für eine Schaffenskrise seit 1892, während Brahms sich in diesen Jahren als Neuschöpfer immer rarer macht. Herzogenberg scheint ganz im Gegenteil eine gesteigerte Produktivität an den Tag zu legen. Neben der mit Friedrich Spitta zusammen konzipierten Kirchenmusik unterschiedlicher Gattungen entstehen mit einem Streichquintett und zwei Klavierquartetten auch große Formen der Kammermusik und vor allem groß dimensionierte chorsinfonische Werke: Die vor zwei Jahren vom Mainzer Bachchor erstmals eingespielte Messe e-Moll, dem Andenken Philipp Spittas gewidmet, verdient einen Platz in der Reihe der ganz großen Meßvertonungen. Das Opus magnum und ultimum von 1898, die zweieinhalbstündige Erntefeier, wird am 5.November dieses Jahres in Bielefeld erstmals wieder zu erleben und zu beurteilen sein.
Eine bemerkenswerte Einschätzung erfuhr seinerzeit das Klavierquartett e-Moll op.75, das in den letzten Lebenswochen von Elisabeth begonnen und dann ihrem Andenken gewidmet wurde. Freund Philipp Spitta schreibt darüber an Joseph Joachim:
«Er hat in diesem Werke Töne gefunden, die ihm bisher nicht zu Gebote gestanden haben. Müssen gewisse Menschen erst bluten, bevor ihr ganzes Inneres sich zeigt?»
Am Ende des Trauerjahres für seine Frau findet Herzogenberg noch einmal zu Tönen, die seine Freunde bisher noch nicht vernommen zu haben meinen. Er komponiert in den letzten Tagen des Trauerjahres die «Totenfeier» op.80 auf Texte, die bei der Bestattung von Elisabeth gesprochen worden sein sollen, um genau am ersten Todestag, dem 7.Januar 1893 fertig zu sein. Als Max Bruch das Werk bei der Uraufführung im März 1893 in Berlin gehört hat, konstatiert er in einem Brief an Philipp Spitta:
        «Herzogenberg hat diesmal den Muth gehabt, sich genau so zu äußern, wie es ihm ums Herz war, und die Wirkung ist nicht ausgeblieben. Auch in den besten seiner frühern Sachen herrscht meines Erachtens - ganz unter uns gesagt - manchmal die Reflexion zu sehr vor, und die Melodik ist nicht so eindringlich und singend, daß dieselben leicht den Weg zu den Herzen Vieler hätten finden können. Möchte er noch oft die Herzenstöne finden, die neben dem tiefen Ernst und der Trefflichkeit der Arbeit das neue Werk so sehr auszeichnen.»
        Dieses Zitat konstatiert eine geradezu befreiende Wirkung der persönlichen Leiderfahrung für das Komponieren. Die emotionale Betroffenheit durch den Tod der Gattin überrumpelt sozusagen den Akademiker Herzogenberg und läßt ihn unmittelbar kommunikable Herzenstöne finden - meint Bruch.
        Ich gebe Ihnen zunächst einen Klangeindruck vom Beginn des Werkes aus der bisher einzigen Wiederaufführung am Totensonntag 1997 in Nürtingen unter meiner Leitung. Partitur und Stimmen galten bis in die 90er-Jahre als verschollen und wurden erst einige Jahre nach der Wende beim Ausräumen des alten Peters-Verlagshauses in Leipzig wieder aufgefunden.
        Dieser h-Moll-Trauermarsch geht wahrlich «unter die Haut»: einschlägige Rhythmik und Akzentuierungen bei Blechbläsern und vor allem Pauke, Streichertremoli, das prägnante Grundmotiv h-cis («Der Mensch») - es ist im Quintsextakkord (über g) harmonisch spannungsreich in Gleichzeitigkeit gebracht - der Unisonogesang des Chores als elementares Aussprechen der Grundwahrheit von der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens, als klanglicher Gegenpol dazu die Terzenidylle der Holzbläser zum Text «gehet auf wie eine Blume». Der Chor verstummt nach seinem h-cis-Aufschrei «und bleibet nicht» und überläßt dem Orchester die weitere, sozusagen wortlos gewordene Klage, die sich stetig steigert und schließlich (was Sie nicht mehr gehört haben) auch gar nicht abkadenziert, sondern in einen Aufschrei des Baßsolisten mündet: «Herr! - warum trittst du so ferne?» Das ist wirklich sehr emotional, schonungslos drastisch komponiert. Wie kann das weitergehen?
        Herzogenberg gestaltet den ganzen ersten Teil der "Totenfeier" von Nr.1 bis 4 als einen gleichsam dramatischen Fortgang: Die allgemeine Vergänglichkeitsklage des Chores nimmt der Baßsolist bei Nr.2 als individuelles Zeugnis auf - ein innerlich aufgewühlter Klagegesang in fis-Moll. Die «Warum»-Frage am Ende erfährt eine überraschend direkte Antwort, indem die Schlußkadenz via Trugschluß nach D-Dur führt, wo in erhabener Jenseitigkeit aus der Ferne der Orgelempore eine Knabenstimme einsetzt und in orgelgestützter Ruhe die Antwort Gottes vernehmen werden läßt. Das ist eine Antwort, mit der die bei Schicksalsschlägen bis heute viel gestellte «Warum?»-Frage als Akt der Auflehnung im allgemeinen gar nicht rechnet. Hier aber ist gleichsam aus dem «off» zu hören: «Was ich tue, das weißt du jetzt nicht, du wirst es aber hernach erfahren!» Obgleich dezidiert undramatisch gesetzt, ist das Erklingen dieser vox dei ein ungeheuer dramatisches Element.
        Dem gleichsam erschöpften Baßsolisten treten nun die Chorbässe zur Seite und reagieren mit den Worten einer Choralstrophe jeweils dialogisch auf die einzelnen Sätze der Gottesrede. Der Männergesang wird Posaunenchor-artig von tiefen Holz- und Blechbläsern samt Streicherbässen begleitet und kommt so wahrlich «de profundis» (gesungen): «Ich lieg im Streit und widerstreb, hilf, o hilf, Herr Christ dem Schwachen». Gekonnt platzierte, leichte rhythmische Akzentuierungen und Wortwiederholungen intensivieren die Sprachhaftigkeit der alten Choralmelodie. In solch eindrücklicher Artikulation dessen, was seit Martin Luther als Glaubenserfahrung «Anfechtung» genannt wird, öffnet sich der am Boden liegende Mensch neu für die Güte Gottes (gesungen): «ich weiß, ich weiß, ich weiß, du wirst‘s nicht lassen.» Und dann überrascht erneut wie ein Deus ex machina das in die Schlußkadenz hineinfallende Christuswort der Sopransolistin, in vollmächtigem Forte unbegleitet in den Raum gestellt: «Ich bin die Auferstehung und das Leben.» Chor und Orchester respondieren im Fortissimo und bekräftigen dieses Wort nun als Glaubensaussage in der Form einer Fuge.
        Dieser erste Teil der "Totenfeier" ist eigentlich eine dramatische Kantate wie Herzogenbergs erstes Großwerk, die Kantate Columbus: alle Sätze gehen direkt in einander über. Inhaltlich vollzieht sich in packender Inszenierung ein Prozeß: von Aufschrei und Auflehnung ob der Realität des Todes über das zögernde Sich-Einlassen auf den von Ferne zu hörenden Gott zur gläubigen Annahme des Christuswortes von der definitiven Überwindung des Todes in der Auferstehung. Das ist genau der Weg des Trauerprozesses, der einem Christenmenschen sowohl abverlangt als auch zu gehen möglich wird. Sollte der Pfarrer bei der Bestattung Elisabeths tatsächlich diese Worte so platziert haben (was in keiner Agende der damaligen Zeit so vorgesehen ist), so hätte er heutige moderne Ritualtheorien vorweggenommen, welche den Bestattungsakt als symbolische Antizipation des gesamten Trauerprozesses sehen wollen. Der zweite Teil der Kantate rekurriert inhaltlich zunächst noch einmal auf die gelungene Trauerarbeit: «Da ich den Herrn suchte, antwortete er mir», um von hier aus die biblischen Perspektiven für ein gelingendes Leben über den Tod hinaus zu entfalten, was insgesamt doch für einen großen Anteil von Herzogenberg selbst an der Textzusammenstellung spricht.
        Auch im Kompositionsvorgang selbst scheint Herzogenberg diesen Trauerprozeß bewußt durchschritten zu haben: Nach alter Erfahrungsweisheit wird von einem Todesfall betroffenen Menschen genau ein Trauerjahr eingeräumt, um diesen Weg zur Annahme des Verlustes zu bewältigen. Herzogenberg terminiert die Kompositionsarbeit genau so, daß er am ersten Todestag fertig ist. Für den Entwurf nimmt er sich nur eine Woche Zeit, eine Woche als die gegenüber dem Jahreslauf verdichtete und damit intensivierte zyklische Zeitfolge. In Berlin ist das Kompositions-Particell erhalten, wo er den zeitlichen Verlauf genau notiert. Er beginnt am 20.Dezember 1892 und ist am 27.Dezember morgens fertig. Er schreibt also ausgerechnet über Weihnachten. Es ist das erste Weihnachten ohne seine Frau, wo also die Verlusterfahrung besonders präsent ist. Außerdem ist seine Haushälterin Helene Hauptmann verreist, so daß er wirklich mutterseelenallein ist. Es existiert aus diesen Tagen eine für Herzogenberg bezeichnend witzige Postkarte an das Haus Spitta: «Motto: Conrad, sprach die Frau Mama, ich geh fort und du bleibst da. Darf ich Montag, 26. bei Euch zu Mittag kommen? Und morgen zu Eurer Bescherung?» Hinter diesem Witz verbirgt sich abgrundtiefe Einsamkeit. Warum wählt Herzogenberg genau diese Tage für die Komposition? - Am 27.12. hat Philipp Spitta Geburtstag, da muß er wieder mitfeiern können. Und so ist er just am 27.12. morgens (wie er extra hinschreibt) fertig. «Schluß» steht groß und schräg da, obwohl das Orchesternachspiel noch nicht skizziert ist. Schluß - der schwere Weg ist abgeschritten und bewältigt.
Auf dem Textblatt habe ich die Datierungen des Particell eingezeichnet. Die Sopran-Arie Nr.8 fehlt dort, scheint also erst bei der Partitur-Niederschrift dazu gekommen zu sein. Es fällt auf, daß Herzogenberg gerade die dramatischen Passagen des ersten Teiles leicht zur Hand gehen, während er für die beiden Chorfugen in Nr.4 und Nr.7 recht viel Zeit, zahlreiche Korrekturen und sogar Neuansätze braucht. Mit den Worten Bruchs gesprochen: Die direkten Herzenstöne fließen leicht in die Feder. Zeit brauchen stattdessen die Fugen, wo formal wie emotional zwingende Fassungen von Glaubensaussagen zu leisten sind.
        Wie sehr Herzogenberg an der emotionalen Aneignung von inhaltlich wie musikalisch-formal Dogmatischem gelegen ist, beweist die eigentümliche Gestaltung der H-Dur-Fuge in Nr.4: «Wer an mich glaubt, der wird leben» beginnt forte mit affirmativen Skandierungen. Das ist affirmatives, liturgisch proklamiertes Bibelwort - Dogma. Es könnte organo-pleno-mäßig im Sinne einer Credo-Schlußfuge so weitergehen, und Herzogenberg hätte sich als anständiger Kirchenmusiker erwiesen. Nach dem ersten harmonisch wundersamen pianissimo-Intermezzo «ob er gleich stürbe» beginnt aber die zweite Durchführung von «wer an mich glaubt» nur noch mf. Die Akzente fehlen, eine durchgehende Achtelbewegung in den Bässen verweichlicht zusätzlich: das Dogma verflüssigt sich. Durch Engführung von je zwei Stimmen ist gleichwohl eine formal-strukturelle Verdichtung gegeben. Die dritte Durchführung nach dem nächsten «ob er gleich stürbe» bringt eine starke Beruhigung und Verinnerlichung: Vergrößerung des Themas in den Chorstimmen, wieder in Engführung, piano-Klang, durchgehender Orgelpunkt auf H. Die weiter fließende Achtelbewegung für «leben» ist behutsam als gleichsam unirdische Leichtigkeit den ersten Violinen und Flöten überlassen. - Diese wunderbare Pointe ist Herzogenberg erst über Nacht eingefallen: am 22.12. führt er abends die Fuge zunächst noch anders fort - wie zuvor mit Achteln auf «leben» in den Chorstimmen, am nächsten Morgen setzt er neu an und schafft so diese überzeugende Sprachform für den Prozeß der innerlichen Aneignung einer zunächst nur proklamierten Glaubensaussage: «Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.»
        Eineinhalb Jahre später wird Herzogenberg in der gleichermaßen untypischen Schlußfuge des Credos seiner e-Moll-Messe dasselbe Glaubensthema noch einmal ähnlich musikalisch bewältigen: das ganz verhaltene «et vitam venturi saeculi» in E-Dur dort steht einzigartig da in der Geschichte der Meßvertonungen.
        Mit H-Dur ist hier in der "Totenfeier" tonartlich der konkrete Gegenpol zum h-Moll des Trauermarsches erreicht. Das ist die im Namen des gerne H-H Signierenden symbolisierte Spannung zwischen conditio humana und Verheißung des ewigen Lebens. Auch die dann im Sommer 1894 komponierte «Geburt Christi» wird zwischen h-Moll und H-Dur stehen, letzteres im Schlußchor auf die Worte «Also hat Gott die Welt geliebt, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.»
Diese Tonartensymbolik ist auch im zweiten Teil der "Totenfeier" präsent:
        Satz Nr.6, komponiert am 24.Dezember, hat als Choralbearbeitung einen h-Moll-cantus-firmus («Was mein Gott will»). Dieser erklingt lediglich im Orchester-Hintergrund in dezenter Klanggebung durch in Oktaven geführte Flöten und piano spielende Trompete, wobei er im ¾-Takt eine für damals ungewöhnliche, interessante Rhythmisierung inklusive Hemiolen erhält. Die Singstimmen (Soloquartett oder kleiner Chor) gestalten die Paul-Gerhardt-Worte madrigalistisch frei, eingebaut in einen D-Dur-Orchestersatz. Dieser beginnt zunächst allein mit pizzicato-Akkorden in Anlehnung an den cantus firmus - klangverlorenes pizzicato als Ausdruck für die im Text artikulierte Gottverlassenheit? Die in der Tendenz positive Aussagerichtung des Textes motiviert wohl den D-Dur-Satz in Spannung zum h-Moll-cantus firmus, im Schlußklang überrascht dann H-Dur. Es heißt ja auch: «...dein kurzes Leid soll sich in Freud und ewig Wohl verkehren». Diese Worte benennen präzise die inhaltliche Tiefendimension der musikalischen Verkehrung von h-Moll nach H-Dur.
        In den beiden folgenden Sätzen bleiben wir mit E-Dur und H-Dur in dieser Sphäre des «ewigen Wohls», mit E-Dur wie Elisabeth-Dur scheint mir - auch im Blick auf zahlreiche Parallelphänomene in anderen Werken noch mehr konkrete Tonsymbolik mit hereinzuspielen.
        Die lebensgeschichtliche Konkretion dieser Musik hat aber auch noch eine andere Dimension, die an der Auswahl speziell dieser Choralstrophe festzumachen ist:
        Es ist die 9.Strophe eines 18-strophigen Paul-Gerhardt-Liedes «Barmherz‘ger Vater, höchster Gott», das nicht sehr bekannt ist, in kaum einem Gesangbuch steht, erst recht nicht im 19.Jahrhundert. Diese Strophe dürfte also auch nicht dem bestattenden Pfarrer zu verdanken sein. Weiter brachte mich die Überlegung, daß für die Herzogenbergs die Hauptquelle der Bildung in kirchenmusikalischer Hinsicht die langjährige Beschäftigung mit Bach-Kantaten war. Herzogenberg war bekanntlich fast 10 Jahre lang Leiter des Leipziger Bach-Vereins, und seine Frau unterstützte ihn dabei nach Kräften, sie kannte laut Max Kalbeck alle Partituren auswendig. In der Kantate BWV 103 «Ihr werdet weinen und heulen» hat der besonders dicht komponierte Schlußchoral genau diese Textstrophe. Kantate 103 hat Herzogenberg am 30.November 1879 aufgeführt. Auch hier ist der cantus firmus «Wer nur den lieben Gott läßt walten», die Tonart von Eingangschor und Schlußchoral ist h-Moll. Inhaltlich thematisiert die Kantate die Spannung zwischen der existentiellen Erfahrung der Gottverlassenheit und der Glaubensgewißheit über die freudige Wiederbegegnung mit Christus: "Doch eure Traurigkeit soll in Freude verkehret werden» heißt es am Ende des Eingangschores, der signifikant mit einem H-Dur-Akkord schließt.
        Es ist nun auffallend, daß in einem Brief Elisabeths schon vom Oktober 1887 diese Liedstrophe als Zitat auftaucht. Aus München, wo ihr Gatte zunächst vergeblich versuchte, einen schweren Anfall von Arthritis zu kurieren, schreibt sie an Philipp Spitta in Berlin. Sie erwähnt auch eine lebensbedrohliche Krankheit von «Mutter Röntgen» (der Mutter des mit Herzogenberg befreundeten, in Amsterdam tätigen Julius Röntgen) und kommentiert dann:
        «Wie schade wär‘s um diese prächtige musikalisch und menschlich noch so junge, lebensfrohe Frau! Aber danach frägt keine Krankheit und der liebe Gott sieht auch ruhig zu, wie seine armen Menschlein sich fretten, kämpfen und zu Grund gehen. Möchte er sich doch einmal meines guten Heinrichs erbarmen und zu ihm sagen:
        «Ich hab Dich eine kleine Zeit, O liebes Kind verlassen. Sieh aber, sieh, mit großer Freud und Trost ohn alle Maßen will ich dir die Freudenkron aufsetzen und verehren.»
Wie oft mir das liebe Lied einfällt, wenn ich das arme Dulderantlitz meines Mannes betrachte, und wie ich mir wünsche, daß es auch bald auf ihn passe.»
        Die Beschäftigung mit Bachs Kantaten prägte die Herzogenbergs also nicht nur musikalisch, sondern auch geistlich. Über Bachs Musik werden sie vertraut mit den Texten, welche Relevanz erhalten für die Deutung des eigenen Lebensgeschicks. Und gerade diese Strophe scheint eine besondere Rolle zu spielen. - Zu bemerken ist, daß Elisabeth fehlerhaft zitiert: bei Paul Gerhardt wie Joh.Seb.Bach heißt es: «Ich hab dich einen Augenblick...» Bei Elisabeth und nachher bei Heinrich in der "Totenfeier" heißt es «Ich hab dich eine kleine Zeit». Hier scheint der hermeneutische Parallelkontext des Deutschen Requiems von Brahms eine Spur hinterlassen zu haben: «Ich habe eine kleine Zeit Mühe und Arbeit gehabt» (Satz 5). «Ich hab dich eine kleine Zeit, o liebes Kind, verlassen» - das ist offenbar der Herzogenbergs gemeinsame Lebens- und Glaubenserfahrung. Es blieb tatsächlich bei einer «kleinen Zeit», denn die Resektion einer Kniescheibe im folgenden Frühjahr brachte die Wende und löste bei Heinrich von Herzogenberg trotz der Versteifung des Knies fast unbändige Freude aus. Das «liebe Lied» wurde wirklich passend.
        Clara Schumann bezeugt in einem Brief an Emilie List nach der Operation Herzogenbergs: «Die armen Herzogenbergs sind aber merkwürdig ideale Menschen, die es beinahe verstehen, dem Unglück noch schöne Seiten abzugewinnen.» - Ich denke, dieses merkwürdig Ideale haben sie ihrer Prägung durch die geistige Welt Johann Sebastian Bachs zu verdanken. Die von Bach her einverleibten Worte halten als Lebenswahrheit auch der Extremerfahrung des Todes stand, kommen hier erst zu ihrer vollen Geltung, und so komponiert Heinrich von Herzogenberg für «das liebe Lied» am Heiligen Abend des Trauerjahres für seine Frau einen wunderbar tröstlichen Satz. -
        In der einige Jahre später veröffentlichten Sammlung von Choralmotetten op.102 erscheint diese Strophe übrigens noch einmal als eine Art Schlußchoral zu einer längeren Chorfuge über eine andere Paul-Gerhardt-Strophe zum Thema der Sterbevorbereitung.
Die "Totenfeier" läßt noch weitere Bach-Spuren erkennen, was zeigt, wie umfassend die Beschäftigung mit Bachs Kantatenwelt den österreichischen Katholiken Herzogenberg geprägt haben muß:

  1. In Partitur und Stimmen findet sich als Untertitel: «Kirchenkantate auf das Todtenfest». Wir haben hier also ganz anders als im Deutschen Requiem des Freundes Brahms eine Kantate mit präziser liturgischer Bestimmung vor uns, zweiteilig, wie es auch bei Bach zu finden ist. Bibelwort und Gesangbuchlied bilden die Textgrundlage. Am Ende steht gattungsspezifisch ein Choral. Die Gesamtdauer ist mit knapp 45 Minuten zwar erheblich für eine Kantate, aber nicht hinreichend für ein Konzertstück. Im gedruckten Klavierauszug heißt es dann nur noch «Cantate», wohl um den Adressatenkreis nicht zu sehr einzuengen.
  2. Eine besetzungstechnische Besonderheit ist nicht ohne Bach zu denken: Herzogenberg verlangt statt der Klarinetten zwei Oboen d’amore. Um dieses bei Bach viel gefragte Instrument gab es zahlreiche Erörterungen mit Philipp Spitta im Kontext der Leipziger und Berliner Bach-Kantaten-Praxis. Herzogenberg outete sich dabei als Verächter der damals üblichen «schäbigen Clarinetten», freute sich vielmehr besonders auf ein Kantatenkonzert in Berlin, bei dem Spitta 6 Oboen und 4 Englischhörner zum Einsatz brachte. In der "Totenfeier" konzipiert Herzogenberg nun von Beginn an Oboenklang wie in Bachs Weihnachtsoratorium (!), die Oboen d’amore erhalten gleich im schönen Terzen-Seitensatz des Trauermarsches eine herausragende Rolle und haben schließlich auch im Nachspiel des Schlußchorals das letzte motivische Wort. Bachs sinnlich-emotionales d’amore-Klangbild wird so zur Referenz an die geliebte Ehefrau.
  3. Die beiden Baß-Arien bei Nr.2 und Nr.5 verweisen nicht nur durch den doppelten Oboenklang an Bach: Bei Nr.2 erinnern aufsteigende Achtel-Seufzerketten ziemlich konkret an den Eingangssatz der Kreuzstabkantate. Auch die große Dimension dieser Arie ist BWV 56 vergleichbar. Bei Nr. 5 erscheint die absteigende Chromatik des anfänglichen Schmachten-Motivs bachgezeugt. Auf die Analogie zwischen Bachs «Unser Mund sei voll Lachens» (BWV 110) und der Lachen-Fuge zu Psalm 126 in Nr.7 wurde von Bernd Wiechert und Ulrike Schilling bereits hingewiesen. Ich möchte wegen der rhythmischen Grundgestalt des Lachenmotivs allerdings die Analogie zum Eingangschor von Kantate 103 höher bewerten.

Eine höchst originelle Reminiszenz nicht an Bach, sondern an Heinrich Schütz ist die Sopran-Arie Nr.8 in H-Dur. Obwohl, oder vielleicht weil hier die einzige Textübereinstimmung mit dem Deutschen Requiem von Brahms besteht, unternimmt Herzogenberg etwas Einzigartiges: Das Orchester bietet mit Violine con sordino und Flöte zwei sich umkreisende Soli, die recht naturalistisch das Vogelgezwitscher über den heiligen Altären nachzeichnen. Lediglich die dreifach geteilten Bratschen liefern den Grundklang in zurückhaltender Klanggebung, ein romantisch mutiertes geistliches Konzert in kleiner Besetzung. Die Sopranistin singt wie gelegentlich bei Vater Schütz auf Sela sinnfreie Melismen, beim zweiten Durchgang im pianissimo bis aufs hohe H geführt. Der berückende Klang suggeriert inhaltlich geistliche Entrückung. Herzogenberg läßt ja den bei Brahms vertonten Vers 3 von der Sehnsucht nach den himmlischen Wohnungen weg - er ist mit Vogel und Schwalbe gleichsam schon dort - im himmlischen H-Dur. Für diese verzückte Vision hat er allerdings noch ein paar weitere Traum-Nächte gebraucht, wie die Einfügung erst in die Partitur belegt.
        Schließlich noch ein Wort zum Schlußchoral. Vorangestellt ist die ergreifend schlicht umgesetzte Bestattungsformel, die in den Beerdigungsagenden für den Tod von Kindern oder früh Verstorbenen vorgesehen ist. «Der Herr hat‘s gegeben, der Herr hat’s genommen». In das Schlußwort «Der Name des Herrn sei gelobt» fallen die Blechbläser ein mit einer Kadenz zum folgenden Choral. Dieser ist im erhaben feierlichen Stil mit ruhigen Halbe-Noten gesetzt. Jeweils auf der Fermate am Zeilenende entfaltet Herzogenberg sehr breit das charakteristische Anfangsmotiv («Auf, Tochter auf») in Gegenbewegung zu mächtigen Orchester-Klangtürmen. So bietet er hier eine Apotheose des Chorals, wie es gerade nicht dem Bachschen Vorbild entspricht, sondern der Idealvorstellung des 19.Jahrhunderts vom möglichst feierlichen Choral. Ich kenne keinen so grandios gesetzten Schlußchoral. Das relativ lange Orchesternachspiel, das sich nochmals zu höchster Intensität steigert und dann im Pianissimo verklingt, bildet ein angemessenes formales Gegengewicht zum Orchester-Trauermarsch des Beginns. Es ist, als ob Herzogenberg hier die Gelegenheit ergriff, einmal zu zeigen, was ihm in der Auseinandersetzung mit Bachs musikalischer und geistiger Welt in den Sinn gekommen ist - wie man das Schlußwort einer Kantate mit zeitgenössischen Mitteln neu, noch größer, überwältigender sagen könnte.
        Herzogenbergs Bach- und Schütz-Rezeption ist also alles andere als eine Flucht zurück aus Orientierungslosigkeit infolge von Leiderfahrung. Das über viele Jahre hinweg gemeinsam mit Elisabeth Angeeignete kann sich vielmehr nun fast eruptiv in einer produktiven künstlerischen Umbildung extrapolieren. Die "Totenfeier" ist darin ein Wurf, und die von Bruch konstatierten Herzenstöne sind vielleicht gerade darum so wirkungsvoll, weil sie von Bach und Schütz mitgeprägt sind.
        Der nächste Wurf folgt knapp eineinhalb Jahre später, wenige Wochen, nachdem der Mentor Philipp Spitta am 13.April 1894 gestorben ist:
        Am 9. Mai 1894 schreibt Herzogenberg an dessen Bruder Friedrich Spitta einen bewegenden Brief, wo er zunächst die lebensgeschichtliche Bedeutung Philipps für ihn und die Schwere seines Verlustes betont. «Ein Ekel vor dem Leben und Weiterschaffen ergreift mich!» meint er da. Derselbe Brief nimmt aber eine bemerkenswerte Wendung: «Ich bin so allein, wie ich es noch gar nicht war, seit meine Frau mir entrissen wurde; (Helene Hauptmann war wieder verreist - zu einer Hochzeit -, und der Ausweg von damals «Darf ich zu eurer Bescherung kommen» existiert nun eben nicht mehr, K.K.) da kann ich recht ermessen, woran ich eigentlich bin; diesem Gefühl ist nicht zu entrinnen und wenn ich die Welt umsegelte! In mir muß sich wieder etwas bilden, etwas Neues, Unerkanntes, das aber die Züge meiner beiden Todten tragen wird.» - Da kommt dieser höchst produktive Trauerprozeß bereits wieder in Gang. Schon 12 Tage später berichtet Herzogenberg an Theodor Wilhelm Engelmann: «So treibe ich denn auch tolles Zeug, schreibe gleichzeitig an italienischen Gassenhauern und einer Missa Solemnis.» Das «tolle Zeug» wurde wirklich ein «tolles Stück», wie man an der Messe sehen kann.
        Als Herzogenberg drei Jahre später auch noch Johannes Brahms ins Grab geblickt hat, wirkt er bereits Trauerprozeß-erfahren. Wiederum an Engelmann schreibt er kurz nach der Beerdigung:
        «Die drei herrlichen Wesen die mich geformt haben sind nicht mehr: Brahms, meine Frau, Spitta! Das offene Grab in das sie vor meinen Augen den Guten, Großen, Geliebten versenkten, nahm mir den letzten Rest meiner Jugend mit hinab. Sie feiern aber Alle in meinem Herzen eine mystische Auferstehung, und solange man sich von ihrem Wesen so durchdrungen und bereichert und gehoben fühlt, ist das Leben und Arbeiten doch der höchste Werth, den man kennt. Und so sei’s!» - Komponieren als Trauerarbeit!

 
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