Herzogenberg und Heiden
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Das kirchenmusikalische Schaffen von Heinrich von Herzogenberg


 
Der Text des Oratoriums (Deutsche Schreibweise)
Der Text des Oratoriums (Schweizer Schreibweise)
 
      Am 16. Dezember 1894 wurde in der Straßburger Thomaskirche durch den akademischen Kirchenchor der Stadt das Weihnachtsoratorium «Die Geburt Christi» von Heinrich von Herzogenberg unter der Leitung des Komponisten uraufgeführt. Seine tiefe innere Bewegung entnehmen wir einem Brief an seinen Freund Friedrich Spitta , der die verwendeten Texte zusammengestellt hatte: «Und wenn ich des Augenblicks gedenke, als meine Musik durch die ganze Thomaskirche flutete, vom Altar zur Orgel und wieder zurück, geschwellt von dem unvergeßlichen Unisono der Gemeinde, dann erlebte ich eine Stunde, deren sich kein noch so beliebter Komponist unserer Tage zu rühmen hätte».
      Auch einem Mitglied des Chores verdanken wir die Schilderung des beglückenden Eindrucks dieser Aufführung: «Am 16. Dezember durften wir es (das Kirchenoratorium «Die Geburt Christi») zum erstenmale aus dem Manuskript zur Aufführung bringen, eingeübt von dem Urheber der Worte (Friedrich Spitta), geleitet von dem Meister, der ihnen Klang verliehen, beim Schimmer der Christbäume, vor einer Gemeinde von weit über zweitausend Köpfen, die den letzten Platz der Thomaskirche füllte. Es war ein Eindruck, wie wir ihn bei allem Schönen und Erhebenden, das uns bisher so reichlich zuteil geworden ist, doch noch niemals empfangen hatten. Das Werk wird ohne Zweifel in den nächsten Monaten im Druck erscheinen und in der Weihnachtszeit dieses neuen Jahres (1895), wills Gott, viele Tausende erheben und erquicken.»
      Der Erstdruck der Partitur erschien zu Ostern 1895 in Herzogenbergs «Hausverlag» Rieter und Biedermann in Leipzig. Dieser Erscheinungsort hat vielleicht dazu geführt, dass im Nachwort des Reprints dieses Erstdrucks mit Datum vom 23. Dezember 1894 die Leipziger statt der Straßburger Thomaskirche als Ort der Uraufführung angegeben wird. Auf jeden Fall hatten beide Städte bedeutenden Einfluß auf die künstlerische Entwicklung des Komponisten, jeweils verbunden mit dem Namen «Spitta» In Leipzig hatte Herzogenberg zusammen mit Franz von Holstein, Alfred Volckland und dem Bachbiographen Philipp Spitta 1874 den «Leipziger Bachverein» gegründet und bis 1885 geleitet, in Straßburg war er mit dem dortigen Theologieprofessor Friedrich Spitta befreundet. Er hatte ihn im Hause des älteren Bruders Philipp zuerst kennengelernt. Die Freundschaft entwickelte sich auf der gemeinsamen Suche nach neuen Formen evangelischer Kirchenmusik. Dabei führte ihn die Musik Bachs wie auch die protestantische Theologiebewegung in Straßburg vor der Jahrhundertwende in eine Richtung, die von zu Hause aus nicht vorgegeben war. Als Sohn eines Kämmerers und Sekretärs am kaiserlich-königlichen Hofe in Graz wurde er am 10. Juni 1843 in dieser Stadt geboren und auf den Namen Leopold Heinrich Freiherr von Herzogenberg-Peccaduc katholisch getauft. Der Namenzusatz «Peccaduc» verweist auf die Herkunft der Familie aus einem alten französischen Adelsgeschlecht. Er blieb zeitlebens bei seiner katholischen Konfession, obwohl er sich geistig und künstlerisch, besonders in seinen letzten Lebensjahren als Protestant fühlte und dies mehrfach deutlich beschrieb. Seine Erziehung erhielt er in einem Jesuitenkolleg in Feldkirch und auf verschiedenen Gymnasien, mit dem Dienstort seines Vaters wechselnd, in München, Dresden und Graz. Nach dem Abitur studierte er an der Wiener Universität Philosophie und Staatswissenschaften. Wenn er sich schließlich - seinen musikalischen Neigungen folgend - als Kompositionschüler des berühmten Friedrich Otto Desoff am Wiener Konservatorium einschrieb und in der Komposition seine eigentliche Berufung fand, galt er doch allgemein als auf vielen geistigen Gebieten gleichermaßen begabt und zu akademischer Qualifikation befähigt. Im Hause Desoff lernte er Brahms kennen und Elisabeth von Stockhausen, die er 1868 heiratete. Sie wurde als Pianistin, Komponistin und musikalisch hoch gebildete Persönlichkeit in der Wiener Gesellschaft sehr geschätzt, Brahms nannte sie bewundernd in einem Atemzug mit Clara Schumann. Rieter-Biedermann druckte Volkslieder und Klavierstücke von ihr. Sie durfte so sicher als ideale Lebensgefährtin Heinrich von Herzogenbergs gelten.
      Nach künstlerisch unbefriedigenden ersten Jahren in Graz zog das Ehepaar 1872 nach Leipzig. Es begann eine überaus fruchtbare Schaffenszeit. Die Kirchenmusik steht dabei mit den Motetten op. 29, Ps. 116, op. 34 und den beiden - Bach stilistisch nahen - Orgelfantasien op. 39 und 46 noch im Hintergrund. Mit zahlreichen Werken für Klavier, Violin- und Cellosonaten, Klaviertrios, -quartetten und -quintetten sowie mehreren Streichquartetten ist vor allem die Kammermusik reich vertreten: zunächst noch im Geiste Schumanns, immer stärker und beinahe umfassend schließlich - fast bis zur künstlerischen Selbstaufgabe - der Schreibweise des von Elisabeth und ihm gleichermaßen sehr verehrten Johannes Brahms unterlegen. Herzogenberg folgt 1885 einem Ruf als Professor für Komposition an die Berliner Musikhochschule, muß seine Tätigkeit aber schon zwei Jahre später unterbrechen. Ein bald nach Amtsantritt spürbares rheumatisches Leiden zwingt schließlich zur Operation. Ein versteiftes und verkürztes rechtes Bein und nur kurzfristige Linderung sind damit verbunden. 1889 nimmt er seine Lehrtätigkeit wieder auf, bis ihn der schmerzliche Tod seiner Frau erneut aus der Bahn wirft. Elisabeth von Herzogenberg erlag im Alter von nur 44 Jahren 1892 einer Herzerkrankung. Von nun an betreute ihn Helene Hauptmann, Tochter des Leipziger Thomaskantors und Komponisten Moritz Hauptmann, fürsorglich bis zu seinem Tode. Er hatte ab 1893 weiter in Berlin unterrichtet und sich in den Sommermonaten in seiner Villa «Abendrot», in der Nähe von Heiden, im Appenzeller Land, hoch überm Bodensee zum Komponieren zurückgezogen, bis ihn seine schwere Polyarthritis und ein hinzugekommenes Nierenleiden zur entgültigen Aufgabe seines Lehrberufes zwang. Im Frühjahr 1900 zog er nach Wiesbaden und verbrachte hier die letzten Monate seines Lebens in der vergeblichen Hoffnung auf ärztliche Hilfe in diesem Thermal- und Rheumabadeort. Er starb am 9. Oktober 1900 und wurde auf dem «idealschönen Wiesbadener (Nord-) Friedhof, um den der Wald seinen Mantel schlägt, und dessen sich färbende Blätter die Herbstsonne vergoldete», begraben. So beschreibt es sein Freund Friedrich Spitta. Die Grabstätte mit einer Bronzebüste, gestaltet von dem ihm ebenfalls freundschaftlich verbundenen Adolf Hildebrand, ist bis heute erhalten.
      Auf der Suche nach den Kompositionen Herzogenbergs, die sich durch stilistische Eigenständigkeit bis heute erhalten haben oder erhaltenswert erscheinen, stößt man auf die Kirchenmusikwerke seiner acht letzten Lebensjahre. Der Tod seiner Frau (1892) war ein entscheidender künstlerischer Einschnitt. «Die Totenfeier» op. 80, in der er Bibeltexte und evangelische Gesangbuchlieder des Begräbnisgottesdienstes für Elisabeth vertonte, steht am Anfang dieser Reihe und bildet zugleich den Übergang zu fast ausschließlicher Beschäftigung mit evangelischer Kirchenmusik. Im Detail bildet sich mehr und mehr eine eigene Handschrift heraus. Zarte Linienführung und feine Klangschattierungen zeigen eine sehr persönliche Innenansicht der vertonten Texte. Der Einfluß von Brahms nimmt damit deutlich ab. Herzogenberg bemängelt in einem Aufsatz «Johannes Brahms in seinem Verhältnis zur evangelischen Kirchenmusik» die fehlenden liturgischen Tendenzen in dessen Musik. Schütz und Bach gewinnen dagegen deutlich an Einfluß. Die Gestaltung der Rezitative orientiert sich stark an denen der Schütz-Historien, die gerade zu dieser Zeit in ihrer Bedeutung für die Kirchenmusik wiederentdeckt worden waren. Bachs Einfluss bezieht sich auf die polyphone Anlage mancher Chöre, auf die Gestaltung von Chorälen und auch auf obligate Orgelpartien. Solche Einschmelzung alter stilistischer Elemente in den kompositorischen Prozess lag seit Mendelssohns Wiederaufführung der Bach’schen «Matthäuspassion» im Geist der Zeit und hinterläßt gerade im Werk dieses Komponisten deutliche Spuren. Herzogenbergs Beziehungen zu Philipp Spitta, mit der Gründung des «Leipziger Bachvereins» begonnen, weisen in dieselbe Richtung. Der theologische Einfluß des Bruders Friedrich kommt ab 1893 verstärkend hinzu. In den Sommermonaten waren die beiden oft und lange in der Villa «Abendrot» zu fruchtbarem Gedankenausstausch zusammen. Daraus entstanden als op. 81, 92 und 99 fünf Hefte mit «Liturgischen Gesängen für die akademischen Gottesdienste in Straßburg» und an größeren Werken das Weihnachtsoratorium «Die Geburt Christi» op. 90, eine Messe op. 93 zum feierlichen Gedenken an Philipp Spitta (gestorben 1894) und schließlich ein Oratorium «Die Erntefeier» op. 104, um hier nur die wichtigsten Stücke zu erwähnen.
      Wie intensiv Herzogenbergs Denken auf die Einbringung seiner Musik in den evangelischen Gottesdienst gerichtet war, läßt sich aus vielen eigenen Aufsätzen und solchen seines Freundes Spitta ablesen. Auch die größeren, zyklischen Werke sollten nicht reine Konzertmusik sein: Der gemeinsam gesungene Choral war als Brücke zwischen Aufführenden und Hörern, Künstlern und Gemeinde, gedacht. Es entstand damit der Begriff «Kirchenoratorium», zur integrierenden Beziehung von Raum und Funktion.
      Als best geeigneter Stoff für ein solches Oratorium erschien Spitta und Herzogenberg die Weihnachtsbotschaft, weil sich gerade einfache, schlichte Aussagen in einer auch Laienchören leicht fasslichen Form ausdrücken ließen und von der Gemeinde ebenso leicht verstanden werden konnten. Auf diesem gedanklichen Hintergrund beschreibt Friedrich Spitta die Entstehungsgeschichte des Oratoriums «Die Geburt Christi» in kritischer Auseinandersetzung mit Bachs «Weihnachtsoratorium» sehr anschaulich:
      «Leute, die gewohnt sind, die Sache nur von einer Seite anzusehen (der musikalischen), meinen freilich, Bachs Weihnachtsoratorium sei das für alle Male unübertroffene Meisterwerk, und man könne unsern Chören nur raten, sich an dessen Einübung heranzumachen. Dabei übersehen sie einerseits, daß die technischen Schwierigkeiten, die es aufgibt, für die meisten Kirchenchöre unüberwindlich sind: die Chöre, die Soli, das Orchester stellen Aufgaben künstlerischer und pekuniärer Art, denen die Kirchenchöre durchweg nicht gewachsen sind. Dazu kommt, daß inhaltlich dieses Werk keineswegs allen Anforderungen genügt, die man an eine kirchliche Weihnachtsmusik in unserer Zeit stellt. Es versteht sich von selbst, daß damit kein Urteil über die Musik, sondern nur über den Text abgegeben wird. Die Dichtung, welche die Worte des Evangelisten umgibt, entspricht weder in ästhetischer noch religiöser Beziehung unsern modernen Bedürfnissen. Es genügt, dafür nur auf das erste Altsolo «Nun wird mein liebster Bräutigam» - «Bereite dich Zion mit zärtlichen Trieben» hinzuweisen. Um der unvergleichlichen Musik willen lassen wir uns schließlich alle Texte gefallen. Aber es bleibt doch bestehen, daß dieser Gesichtspunkt bei den kirchlichen Feiern nicht maßgebend sein darf. Somit beruht es nicht auf Überhebung, wenn man für die Praxis sich nach einem Ersatz für Bachs Weihnachtsoratorium umsieht.
      Die hier flüchtig hingeworfenen Gedanken werden es begreiflich machen, daß ich in meinen Plänen für einen Ausbau der evangelischen Kirchenmusik mit der Bitte an Herzogenberg herantrat, ein zusammenhängendes Werk für die Weihnachtszeit zu schreiben. Ich dachte dabei an die einfachsten Mittel, vierstimmigen Chor mit Harmonium bzw. Orgelbegleitung. Die Rezensenten, die seine «Geburt Christi» mit dem billigen Einwand abzutun meinten, sie litte doch eben gar keinen Vergleich mit dem reich ausgestatteten Bach’schen Gegenstück, haben keine Ahnung davon gehabt, wie sich Herzogenberg durch asketisch enge Grenzen, die ich ihm gesteckt hatte, beengt gefühlt hatte. Mit Rührung entsinne ich mich des Ringkampfes, den ich mit ihm durchfochten habe, von der Überzeugung getragen, ein großer Künstler werde auch bei geringen Mitteln etwas Hervorragendes leisten können. Die Beschränkung auf die Begleitung der Orgel oder gar des Harmoniums, wenn man den Chor, wie ich es forderte, nicht im Rücken der Gemeinde auf der Orgelempore aufstellte, sondern in deren Angesicht beim Altar, wollte ihm zuerst gar nicht in den Sinn. Die Hinzuziehung von Streichinstrumenten erschien mir bei unsern Kirchenchören gewagt. Herzogenberg erwiderte scherzend: «Ein paar Bierfiedler wird man doch überall auftreiben können.» Ich mußte mich geben, erlebte dann aber noch einen letzten Angriff auf meine asketischen Forderungen. Ahnunglos überfiel er mich mit der Frage: «Eine Oboe wirst du mir aber doch noch gestatten?» Entrüstet entgegnete ich, ich sähe schon, daß er mir nach und nach das ganze moderne Orchester abschwindeln und damit meine wohl erwogenen Pläne zunichte machen werde. Er versicherte, nichts mehr erbitte er als dieses eine Blasinstrument, dessen Beschaffung doch gewiß nirgends besondere Schwierigkeiten machen werde. Ich gab nach, ohne zu ahnen, in wie geistreicher Weise er diese Erweiterung seiner ursprünglichen Befugnisse verwenden wolle.
      Bei der Herstellung des Textes der Weihnachtsmusik war für mich maßgebend, daß freie Dichtung ausgeschaltet werden müsse und außer dem Bibeltexte nur die Lieder heranzuziehen seien, die sich im Laufe der Zeit als charakteristische Äußerungen der Weihnachtsstimmung herausgebildet hatten. Das bot die Gewähr dafür, daß das Werk einen wirklich künstlerischen Ersatz schaffen würde für die bunten Programme, die unsre Chöre zur Weihnachtszeit aufzustellen pflegten. Ich zerlegte den Stoff in drei Teile: der erste umfaßte die Adventsgedanken, der zweite die Geburtsgeschichte, der dritte die Anbetung des Christkindes. Im ersten traten an die Stelle des den Bibeltext vortragenden Evangelisten vier Propheten, welche die bekanntesten Weissagungsworte vortrugen, jedesmal abgeschlossen durch einen figurierten Choral des Chores, das Ganze durch Gemeindegesang, der auch das Werk einleitet. Der zweite bringt zuerst die Vorgeschichte der Geburt, Gabriels Botschaft an Maria, zweimal unterbrochen durch alte liebe Lieder und abgeschlossen durch das «Ehre sei Gott in der Höhe» und entsprechenden Gemeindegesang. Die Geschichte der Anbetung schließlich umfaßt vier Chorchoräle und schließt dann, dem Eingangsteil entsprechend, mit Gesang von vier Evangelistenstimmen ab, worauf der Schlußchor und der Gesang der Gemeinde folgt.
      Die Art, wie Herzogenberg den Stoff in etwa 3 Wochen musikalisch bewältigt hat, legt ein glänzendes Zeugnis von der sicheren Meisterschaft ab, mit der er an solche Aufgaben herantrat. Den Evangelisten faßte er in einem wohl unbewußt an Scandelli und Schütz in ihren Osterhistorien sich anlehnenden Choralton, aus dessen ruhiger Gleichmäßigkeit an bedeutsamen Stellen, wie bei Nennung des Namens der Maria empfindungsreiche Melismen und überraschende Ausweichungen aufblühen. Die Worte der redenden Personen: Maria (Sopran), der Engel (Alt), heben sich durch größere Freiheit von den erzählenden Worten des Evangelisten ab. Von großer Mannigfaltigkeit sind die Choralbearbeitungen. Dreimal nach den Weissagungsworten des ersten Teils erklingt die Melodie des von Brahms für den musikalischen Gebrauch wieder entdeckten Liedes aus dem 16.Jahrhundert «O Heiland, reiß die Himmel auf» und werden jedesmal in charakteristischer Weise ausgeführt.
      Als Abschluß des vierten Verheißungswortes steht der von Herzogenberg früher in freier motettenartiger Weise komponierte Vers «Kommst du, Licht der Heiden», hier in einer Bearbeitung der im Baß liegenden Originalmelodie, mit reicher freier Begleitung, aus der sich am Anfang und am Schluß bedeutsam die Solovioline heraushebt.»
Ausführlich stellt Spitta jede Einzelheit auch des zweiten und dritten Teiles dar, um dann folgendermaßen zusammenzufassen:
      «Man darf wohl sagen, daß dieses Weihnachtsoratorium in einzigartiger Weise die dem Volk lieb gewordene Fülle der Weihnachtslieder zusammengefaßt und in ebenso geistreich-künstlerischer wie volkstümlicher Weise bearbeitet hat. Daraus erklärt sich auch die ungemeine Anziehungskraft, die dieses Werk gefunden und in hunderten von Aufführungen in ungeminderter Weise erwiesen hat. Hier zeigt sich der Meister der Variation. Dahinter verschwinden fast die freien Chorkompositionen, die an einigen Stellen auftreten, die schlichten Klänge der Sehnsucht am Anfang und die Männerquartette der Propheten; die fröhliche Einleitung zur heiligen Nacht in Chor- und Sologesängen zu Arndts Worten «Erklinge Lied und werde Schall»; der geheimnisvolle dreistimmige Gesang der Engel über der Krippe; der Gesang des Benedictus des Evangelisten zum Schluß mit dem immer neu einsetzenden Halleluja des Chores, und endlich der Schlußchor «Also hat Gott die Welt geliebt» mit seiner überquellenden dankbaren Freude. Alles in allem liegt ein Werk vor, das als wahrhafte Bereicherung der evangelischen Kirchenmusik gelten darf, zumal wenn man auf die Leistungsfähigkeit der Chöre sieht und die Auffassungsfähigkeit der Gemeinden, der solche musikalischen Feiern die gottesdienstlichen Erlebnisse vertiefen sollen.»
      Die Verarbeitung von volkstümlichen Weihnachtsliedern, der einfache, meist dreiteilige Aufbau der Chöre, die klare, durchsichtige Linienführung der Stimmen in doch immer kunstvollem polyphonen Geflecht, die stimmungsmalende, niemals aber aufdringliche Instrumentation haben im Zusammenklang mit der schlichten, am Evangelium ausgerichteten Textfassung sicher entscheidenden Anteil an der Beliebtheit des Werkes, die sich bis heute erhalten hat. Neben eigenen Ansätzen, vor allem in den vom Männerchor vorgetragenen Prophetenworten, enthält das Werk viele Historismen, die aus der Ästhetik der Entstehungszeit verständlich erscheinen. Nie aber hat man den Eindruck simpler Stilkopie, immer spürt man den Ernst und die tiefe Gläubigkeit, mit der Herzogenberg die Weihnachtsbotschaft musikalisch ausleuchtet. Überträgt man diesen künstlerischen Ansatz sinngemäß auf die übrigen geistlichen, vor allem die späten oratorischen Werke, wird man Herzogenbergs Tonsprache insgesamt nicht als stilbildend empfinden können. Darin liegt wohl auch die innere Begründung, warum sich außer seinem Weihnachtsoratorium keine größeren Werke lebendig erhalten haben. Für eine sicher sehr lohnende Wiederaufführung des Oratoriums für Soli, Chor und Orchester «Die Erntefeier» op. 104 mag man es bedauern. An der ästhetischen Bewertung, die über Herzogenbergs Musik einordnend, doch gleichwohl abwertend hinweggegangen ist, wird sich kaum etwas ändern.
      Der vorliegenden Aufnahme fehlt der als bindend erkannte Gemeindegesang. Sie muß ihren Wert als Konzertaufnahme beweisen. Andernfalls wäre nur ein Aufführungsmitschnitt denkbar. Der Hörer mag entscheiden, ob die theologisch für wesentlich erkannte Korrespondenz zwischen Gemeinde und Aufführenden verzichtbar erscheint. Selbst dann bleibt aber auch heute noch der sich darin ausdrückende theologische Grundgedanke bewegend: Die frohe Botschaft von der Geburt Jesu Christi will immer ganz persönlich ansprechen, in das Geschehen einbeziehen. Deshalb verträgt sie keine Distanz. Davon muß auch in einer konzertanten Wiedergabe etwas geistig erfaßbar und spürbar werden.

Konrad-Jürgen Kleinicke

Der Text des Oratoriums (Deutsche Schreibweise)
Der Text des Oratoriums (Schweizer Schreibweise)
 
Quellen
Karl Budde, Die Geburt Christi, Kirchenoratorium von H. von Herzogenberg, in: Die christliche Welt, evangelisch-lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, 9 (1895), Sp.151159.
Heinrich von Herzogenberg, Johannes Brahms in seinem Verhältnis zur evangelischen Kirchenmusik, in: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst, 2 (1897), S.6871.
Friedrich Spitta, Das Kirchenoratorium, in: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst, 5 (1900), S.80ff.
Friedrich Spitta, Heinrich von Herzogenberg, in: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst, 5 (1900), S.316.
Friedrich Spitta, Heinrich von Herzogenbergs Bedeutung für die evangelische Kirchenmusik, in: Jahrbuch Peters 25 (1919), S.34ff. und 26 (1920), S.40f.

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