Übersicht

Aktuelles
• Der Komponist,
  sein Umfeld,
  seine Zeit
Werkverzeichnis
   - nach Gattungen
   - nach Opuszahlen
• Musikwissenschaftl. Beiträge, 
  Werkeinführungen, Analysen

Briefwechsel/Transkriptionen
• Herzogenberg-Gesellschaft
Herzogenberg-Freundeskreis
• aufgelöst: Herzogenberg-Fonds 
Herzogenberg-Konzerte & Zyklen
in Heiden     andern Orts  
• au
f YouTube
Gönner der Sache
Herzogenberg
und
der Konzertreihen
CD-Kiosk
• Bücher
Musikverlage
Herzogenberg-Noten:
Werkliste, Bestellungen,
Verlage,
gratis Download
Aktuelles
• Links

Der Text des Oratoriums (Deutsche Schreibweise)
Der Text des Oratoriums (Schweizer Schreibweise)
Alternative (besser singbare) Fassungen der Gemeindechoräle
Alternative Fassungen der Gemeindechoräle: Konzertante Aufführung der Chor übernimmt die Gemeindechoräle

 

Die Entstehung des Weihnachtsoratoriums «Die Geburt Christi» in Heiden

Der Straßburger Theologieprofessor Friedrich Spitta (1852-1924) brachte im Advent 1911 (anläßlich der achten Aufführung des Werkes in Straßburg mit dem Akademischen Kirchenchor unter seiner Leitung) in der Zeitung einen amüsanten Bericht von dessen Entstehung und verbreitete ihn unter der Rubrik «Kleine Mitteilungen» in der von ihm redigierten «Monatschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst» (Jahrgang 17, 1912, S.66f.). Der Text lautet:
 
«Im Sommer 1894 war ich für einige Wochen Herzogenbergs Gast in seinem Landhaus in Heiden, dem er den Namen «Im Abendrot» gegeben, in das er so manchen seiner Freunde zu stillem Geistesaustausch eingeladen mit den Worten, die über dem Eingang den Kommenden grüßten: «Bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt.» Hier besprachen wir, auf der freien Höhe des Appenzeller Landes mit dem weiten Blick auf den Bodensee und das dahinter gelegene schwäbische Land, mancherlei Pläne, die ich für die evangelische Kirchenmusik hatte und zu deren Realisierung ich seine Kunst in Bewegung setzen zu können hoffte. Er hatte bereits in den drei Heften großzügiger Liturgischer Gesänge für Advent, Epiphanias und Passion einen Teil meiner Wünsche erfüllt. (Fussnote 1) Jetzt lag es mir besonders an, ihn für den Plan eines Weihnachtsoratoriums zu interessieren. Seinem Einwand gegenüber, daß wir ja das von J.S.Bach besäßen, dem Konkurrenz zu machen ein eitles Unterfangen sei, begegnete ich mit dem Hinweis auf dessen Umfang, technische Schwierigkeit und Kostspieligkeit im Beschaffen von Solisten und Orchester. Vor meiner Seele stand ein mit den einfachsten Mitteln ausführbares Werk, das den bunten, stillosen Programmen unserer Kirchenchöre zur Weihnachtszeit entgegentreten könnte und deren kirchliche Feiern auf ein höheres künstlerisches Niveau zu heben imstande wäre.

Nach manchem Hin- und Herdisputieren - er war ein Meister in geistreicher, inhaltsvoller Diskussion - fing er an, sich für den Plan zu erwärmen. «Schaffe mir einen Text», bat er. «Das soll sofort geschehen». Bibel und Gesangbuch hatte ich im Kopfe, Boehmes deutsche Volkslieder fand ich auf seinem Schreibtisch. Die Idee des Ganzen lebte längst in mir. So wurde denn in sehr kurzer Zeit die Textunterlage geschaffen, die bei der späteren Veröffentlichung des Werkes sehr wider meinen Willen als meine Schöpfung genannt worden ist. Im Verhältnis zu den ebenfalls von mir stammenden, aber erst nach langer Überlegung zustande gekommenen Texten zu Herzogenbergs zweiteiliger Passion (Fussnote 2) und zu seinem letzten großen Werke, der Erntefeier (Fussnote 3), ist der zum Weihnachtsoratorium schnell hingeworfen. Aber der Komponist war zufrieden, und so quälte ich ihn nicht weiter mit Änderungsvorschlägen, die noch in mir aufstiegen.

Ich hatte ihm größte Einfachheit der Mittel eingeschärft: ohne das könne der Zweck, den ich im Auge hatte, nicht erreicht werden. Vierstimmiger Chor, leichte Soli, Orgel- bzw. Harmoniumbegleitung, damit müsse die Sache gemacht werden. Herzogenberg wand sich etwas unter diesen harten Auflagen. Endlich bei der Heimkehr von einem Nachmittagsspaziergang nach einer der schönen sauberen Wirtschaften des Appenzeller Landes, wo er meinen störrischen Sinn zu erweichen versucht hatte durch ein Glas Landwein und den guten Käs, den der richtige Appenzeller bekanntlich mitsamt dem Teller zu essen pflegt, rückte er vor: «Ohne ein Streichquartett kann ich die Komposition nicht machen, wie sie mir im Sinn liegt.» Ich fuhr auf: «Das ist wider die Verabredung». Er meinte: «Was hat denn das zu sagen? Ein paar Bierfiedler findet man auf jedem Dorfe; auf diese Weise wird die Aufführung des Werkes auch in den kleinsten Verhältnissen nicht in Frage gestellt werden.» Und nun fing er an, wie man für gewisse Wirkungen eben mit dem langweiligen, zähen Tone eines Harmoniums nichts erreichen könne. Ich mußte nachgeben. Am nächsten Tage befanden wir uns auf einem Spaziergang in einem der schönen Tobel, die mit ihren baumreichen Wänden das grüne Weideland so malerisch unterbrechen, als er auf einmal stehen blieb, mich mit einem überaus komischen Blick von der Seite ansah und sagte: «Eine Oboe wirst Du mir doch wohl noch schenken.» Zunächst war ich starr über eine solche Durchbrechung unserer Vorbedingung; dann rief ich: «Fordere nur lieber ein ganzes Bläserchor! Das ist der beste Weg, auf dem wir unseren bescheidenen Kirchenchören ein ihren Verhältnissen entsprechendes Weihnachtsoratorium beschaffen können.» Er aber blieb bei seiner Ansicht und versicherte, er würde außerdem nichts fordern, und ich würde schon zu der Erkenntnis kommen, daß diese eine Oboe, die man ja in jedem beliebigen Tanzorchester auftreiben könne, von solcher Bedeutung sei, daß ich ihm hinterher sicher meine Verzeihung nicht vorenthalten werde. Und er hat Recht behalten. Das Auftreten dieses einzigen Blasinstruments im dritten Teile, wo Hirten und Kinder zur Krippe eilen und dem Kindlein vormusizieren, ist von solcher poetischen und humoristischen Wirkung, daß durch dieses neue Mittel das Werk über das Gloria der Engel hinaus eine ganz ungeahnte Steigerung erfährt. Wieviel Freude und Behagen hat diese einzige Oboe schon verbreitet bei den Zuhörern und vor allem bei den mitsingenden Kindern, denen sich der Oboist als getreuer Ekkart zugesellt und sie schließlich durch die Fluten des Schluß-Doppelchores sicher hindurchgeleitet mit ihrem Choral: «Er ist auf Erden kommen arm, daß er unser sich erbarm.»

Nun war Herzogenberg mit mir fertig. Für die Umwelt wurde er ungenießbar, da er nur noch in dem werdenden Weihnachtsoratorium lebte. Am letzten August oder ersten September verließ ich Heiden und hoffte etwa in einem Monat zu hören, wie es mit der Komposition des Werkes weiter gehe. Statt dessen erhielt ich um den 26. September ein Telegramm: «Komme morgen mit Weihnachtsoratorium, sorge für einen kleinen Chor.» Ich traute meinen Augen nicht, und doch war es so. Am nächsten Tage rückte er mit der vollständigen Partitur des Weihnachtsoratoriums an. Ein kleiner Kreis von Musikfreunden hörte es sich an und versuchte, so viel man über die Schultern des Spielenden hinweg von den Stimmen aus den mit seiner klaren Handschrift ohne Korrektur hingestellten Noten erhaschen konnte, mitzusingen. «Wollt ihrs zu Weihnachten singen, dann werde ich sofort Stimmen herstellen lassen.» Wir wollten, und so geschah es denn. Schnell lebte sich der Chor in seine neue Aufgabe ein; und hatte Herzogenberg, als er am 13. oder 14. Dezember ankam, auch noch vieles auszusetzen, besonders am Orchester, so überwand seine ruhige Freundlichkeit die Schwierigkeiten schneller, als die stürmische Ungeduld des Verfassers dieser Zeilen. Es war ihm ernst mit dem, war er mir einige Tage vorher geschrieben hatte: «Auf Sonntag lade ich den lieben Gott ein.»

Wir Sänger haben damals im wahren Sinne des Wortes unvergeßliche Eindrücke gehabt, die sich in dem Begehren des Chors offenbarten, das Werk womöglich jedes Jahr zu wiederholen ...»

(Es folgt eine Aufzählung der zahlreichen Aufführungsorte des Werkes bis Ende 1911 von Amsterdam über Buenos Aires bis Zürich und Zwickau.)
 
Diese Erzählung Spittas aus der Erinnerung ist, was die genauen Datierungen anbelangt, korrekturbedürftig. Aus dem in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrten Briefwechsel, sowie dem dort zugänglichen Kompositions-Particell der «Geburt Christi» ist folgendes zu entnehmen:
- Spitta verließ Heiden 1894 bereits Mitte August (Dankbrief Spittas vom 19.8.). Herzogenberg begann mit der Niederschrift der Komposition im Particell (Vokalstimmen und Orchester im Klavierauszug) laut Eintragung im Autograph am 18.8.1894.

- Den zweiten Teil des Oratoriums vollendet Herzogenberg am 31.8. Beim dritten Teil ist das Kompositions-Particell nicht vollständig erhalten, so dass auch das letzte Vollendungsdatum fehlt. Stattdessen ist am Ende aus der Reinschrift-Partitur der Schlußchor «Also hat Gott die Welt geliebt» eingefügt.

- Am 19.9. schreibt Herzogenberg eine Postkarte an Spitta, die mit «Fertig!» beginnt. Er kündigt sein Kommen nach Straßburg zwischen 26. und 29.September an.

- In weiteren Schreiben vom 22.9. und 27.9. präzisiert Herzogenberg den Zeitpunkt seiner Ankunft (schließlich 29.9., 14 Uhr). Die obige Schilderung Spittas mit dem Telegramm ist also etwas überzogen, zeigt aber, wie überraschend die schnelle Vollendung des Werks empfunden wurde.

- Aus dem Schreiben Herzogenbergs vom 22.9. sei zitiert:
«Ich glaube wirklich, die ganze Sache hat einen sehr neuen Ton und ist «unterhaltend» im höchsten Grade. Dies darf ich sagen, da es zumeist Dein Verdienst ist; ein Erlahmen war unmöglich, da die Contraste so lebhaft sind, daß ich immer wieder von neuem aufgestachelt wurde, wenn die Puste mal versagen wollte. Ich wäre schon 12 Tage früher fertig geworden, hätte mich nicht der Teufel der Sauberkeit ergriffen und zu einer Reinschrift erster Güte gezwungen.»

Daraus läßt sich die Komposition des Werks nun genau Terminieren:
Komposition ins Particell: 18.8. - 7.9.1894
Ausschreiben der Partitur: 8.9. - 19.9.1894
Der Vergleich mit der Entstehung von Händels Messias in gut drei Wochen ist angebracht!
 
Die Uraufführung fand statt am 3.Advent, 16.Dezember 1894, in Straßburg, St.Thomas, der Wirkungsstätte von Spittas Akademischem Kirchenchor. Herzogenberg dirigierte selbst, Friedrich Spitta übernahm die Tenor-Partie. Der Komponist erlebte dies als ganz besonderen Höhepunkt:
- Am 18.12. schreibt er aus Berlin zurück nach Straßburg:.

«Lieber Freund! So huschten wir halb schlafend, halb dämmernd durch die ganze Breite Deutschlands hierher zurück, und aus ist das schönste Capitel meines Lebens! ...»

Am 9.1.1895 reagierte Herzogenberg auf einen Neujahrsgruß Spittas und die Zusendung der Zeitungsrezension mit einem ausführlichen Brief. Hier heißt es:

«Deinen lieben, warmen Neujahrsgruß bewegte ich in feinem Herzen und bin Dir für so viel herzhafte Treue in ernsthafter Weise dankbar. Eine warme Überschätzung fördert Einen in unglaublicher Weise; vorausgesetzt, daß das Ganze nicht von vornherein ein Mumpitz gewesen ist. Daß dies mit mir nicht der Fall ist, wurde mir in diesem Jahre so klar wie nie vorher, mag nun die Welt darüber denken, was sie will. Mit wie viel mehr Humor und innerer Lustigkeit zeige ich nun dieser abgehetzten und zerstreuten Welt mein Backbord, seitdem meine Bussole so stetig auf eine liebe, kleine Insel weist, wo «meine Menschen» sind, für die ich meine kleine eigene Existenzberechtigung habe. Der Kaiser von Rußland ist nicht glücklicher als ein kleiner grüner Käfer, der nur vier Blätter und sechs Halme kennt und die ganze Welt zu haben meint. Und wenn ich des Augenblicks gedenke, als meine Musik durch die ganze Thomaskirche flutete vom Altar zur Orgel und wieder zurück, geschwellt von dem unvergeßlichen Unisono der Gemeinde, dann erlebte ich eine Stunde, deren sich kein noch so beliebter Konzertkomponist unserer Tage zu rühmen hätte.»
 
Zur Aufführungspraxis des Werkes ist erhellend, was Herzogenberg am 21.Oktober 1895 an den Kantor der Leipziger Lutherkirche, Bernhard Richter, schreibt, wo das Oratorium zur Aufführung kommen soll:

«Das Orchester zum Oratorium braucht nicht stark zu sein, sondern bloß genügend. Gegen 70 Sänger würde ich I Vi 2mal, II Vi 2mal, Br. 2mal, Vcl. und Cb. je einmal für genügend erachten, vorausgesetzt, daß nur wackere Spieler verwendet werden. Daß Sie vor dem Altar Aufstellung nehmen freut mich ganz besonders; Sie sollen mal sehen, was dann der Orgeleintritt am Ende des 2ten Theiles für eine Wirkung macht. Der ganze Raum musiziert, was vordem noch nicht da gewesen ist.
Kein extra großes Harmonium; es wird durch die Größe bekanntlich nicht besser; ist überhaupt ein trauriger Notbehelf. ...»

(Zur Frage abweichender Melodien bei den Gemeindeliedern empfiehlt er, mit eigenen Sätzen zur örtlich üblichen Melodieform zu arbeiten.) «Diese Choralsätze habe ich ja eigentlich bloß zu meinem eigenen Spaß gemacht, damit ich im Werk keine Lücke habe.»

(Zur Frage der Besetzung der vier Männersoli im ersten Teil) «Machen Sie bitte ganz was Sie wollen; dem Werk schadet es nicht, wenn ein Bassist beide Soli singt, obgleich das nacheinander Auftreten der vier Propheten sich recht gut macht.»

Konrad Klek

Friedrich Spitta: Weitere Äusserungen zu Struktur der «Geburt Christi», zur Aufführungspraxis und allerlei Reminiszenzen
 

Der Text des Oratoriums (Deutsche Schreibweise)
Der Text des Oratoriums (Schweizer Schreibweise)
Alternative (besser singbare) Fassungen der Gemeindechoräle
Alternative Fassungen der Gemeindechoräle: Konzertante Aufführung der Chor übernimmt die Gemeindechoräle
 
  1. Diese Liturgischen Gesänge für die Akademischen Gottesdienste in Straßburg, op.81, waren im Sommer zuvor, 1893, beim ersten Besuch Spittas in Heiden konzipiert und nach seiner Abreise umgehend komponiert worden. Sie sind im Carus-Verlag-Stuttgart neu aufgelegt. zurück
  2. Die Passion, op.93, komponiert vom Sommer 1895 bis 29.2.1896, ebenfalls neu aufgelegt im Carus-Verlag Stuttgart. zurück
  3. Erntefeier, op.104, vollendet in Heiden am 2.Juli 1898. Nach wenigen Aufführungen bis 1913 erstmalig wieder aufgeführt am 5.11.2000 in Bielefeld, Pauluskirche (Studio-Chor Bielefeld, Ltg. Martin Fugmann). Aufführungsmaterial ist zu beziehen über Rainer Timmermann, Gütersloh. zurück
nach oben  Übersicht