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Zu Heinrich von Herzogenberg

Die Passion op.93

Der vollständige Text des Oratoriums

Nach der äußerst beglückenden Erfahrung mit Komposition und Uraufführung des Weihnachtsoratoriums „Die Geburt Christi“ im Jahre 1894 erhielt Herzogenberg im Folgejahr von seinem Freund Friedrich Spitta bei dessen drittem Sommerbesuch in Heiden den Text für eine Passion, deren Komposition er wiederum sogleich begann. Die Arbeit an diesem Werk nahm das nächste halbe Jahr in Anspruch. Am 29.Februar 1896 meldet Herzogenberg die Fertigstellung des zweiten Teils nach Straßburg, während dort die Vorbereitungen für die Erstaufführung des ersten Teils im Gange sind. Diese fand statt am Sonntag Judika, dem 22.März 1896, unter Leitung des Librettisten Friedrich Spitta in Gegenwart des Komponisten. Eine Gesamtaufführung in Berlin im Folgejahr (3.4.97) bestritt Herzogenberg selbst mit der von ihm geleiteten Musikalischen Gesellschaft.
 
Im ersten Jahrgang der von Friedrich Spitta und Julius Smend herausgegebenen Monatschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst (1896/97) findet sich eine Vorstellung des Werkes durch den Komponisten selbst, die hier ungekürzt im Wortlaut als gewissermaßen authentische Werkeinführung wiedergegeben sei (S.270 - 276). Zur besseren Übersicht sind gliedernde Überschriften eingeführt. Wenige Fußnoten wurden ergänzt:

Konrad Klek
 

Die Passion


Kirchen-Oratorium für Gründonnerstag und Karfreitag op. 93

Selbstanzeige des Verfassers Heinrich von Herzogenberg


Übersicht

 

Einleitung
I. Allgemeines
1. Zum Besonderen des Kirchenoratoriums
2. Die besondere Gestaltung der Evangelisten-Partie
3. Epik und Dramatik bei den anderen Rollen

 

II. Das Werk
4. Gliederung: Gründonnerstag und Karfreitag

 

A) Der erste Teil
5. Die Vorbereitung des Abendmahls: Jesu Liebe - der Menschen Sünde - Buße
6. Einkomponierte Gemeindestrophen zum Abendmahlslied „Schmücke dich“
7. Abendmahl als Eucharistie: Der Dankchor aus der Didaché
8. Das große Gebet Jesu für die Seinen

 

B) Der zweite Teil
  9. Eingangschor und besonderer Grundton der Passionsbetrachtung
10. Rezitative und Turba-Chöre
11. Ergebung in Gottes Willen
12. Das einzige Solo-Arioso
13. Kreischen und Heulen - kraftvoll und stolz
14. Die erlösende Antwort
15. Leidenschaftliche Beteiligung am Kreuzesgeschehen
16. Leitmotivik im Harmonium
17. Tod und Triumph - eine neue Deutung des Todes Jesu

 


Einleitung
Die Anzeige eines Werkes durch den Verfasser selber ist in der literarischen Welt bekannter als in der künstlerischen. Aber auch dort ist sie immerhin ein seltener Gast; und das ist schade. Denn wenn es wahr ist, daß ein Freund zur Beurteilung eines Werkes viel günstigere Dispositionen mitbringt als ein Feind; daß eine zu sehr ins Rosa gefärbte Brille der inneren Wahrheit der Sache weniger Abbruch thut als eine graue und darum schwachsichtige: so muß der Leser in das Verständnis eines Werkes dann am besten eingeführt werden, wenn der Autor selber seine Intentionen klarlegt.
Und so wage ich’s denn, mein oben angezeigtes neuestes Werk einer Analyse zu unterziehen. In einem wesentlichen Punkte werde ich mir hierbei keine Reserve aufzuerlegen haben: Anlage und Bau des Stoffes verdanke ich meinem Freunde, Professor Friedrich Spitta in Straßburg. Wer nur einigermaßen mit Phantasie begabt den Text durchliest, wird mir zugeben, daß in seiner Anordnung, der Wahl der Bibel- und Gesangbuchstellen, schon das liegt, was man die Seele einer stark und vernehmlich sprechenden Architektur nennen dar, nämlich ein ebenso schlichter wie klarer Grundriß. Die daraus folgenden Wirkungen waren kaum zu übersehen oder zu vergreifen. (Zur Übersicht)
 
I. Allgemeines
1. Zum Besonderen des Kirchenoratoriums

Das Kirchen-Oratorium, weil es sich wohl als Frucht des in jüngster Zeit neuerblühenden kirchlich-liturgischen Lebens herausgebildet hat, ist in der Kunstgeschichte eine neue Erscheinung, deren Wesen in weiteren Kreisen noch nicht so klar erkannt sein dürfte, daß eine kurze Erörterung über dasselbe hier nicht am Platze wäre. In einem Hauptpunkte unterscheidet es sich von allen seinen Vorläufern, ja überhaupt von jeder anderen musikalischen Vorführung. Zerfällt ein gefüllter Konzertsaal gewissermaßen in zwei Lager, die Ausführenden und die Aufnehmenden, so ist hier diese Trennung und die auf ihr beruhende Gegenwirkung nur eine äußerliche und scheinbare. Denn die zu einer musikalischen Andachtsstunde - nicht mit einem Kirchenkonzert zu verwechseln! - in der Kirche versammelte Gemeinde verbindet in sich beide Lager zu einer Einheit, ganz wie es im Gemeindegesange nicht eine singende und eine dem Gesang zuhörende Gruppe giebt. Auch der Gesang einzelner oder zu einem Chor vereinigter Sänger strömt hier aus dem Empfindungsbedürfnis der Gemeinde hervor. Diese sich scheinbar in Gegenwirkung zur Gemeinde stellenden Solisten und Chorsänger gehören zu ihr, ganz wie der Prediger und Liturg. Wahrlich, eine echt-evangelische Blüte; keine andere Konfession könnte sie gezeitigt haben!
Der Komponist - ein Diener der Gemeinde wie der Organist - tritt in den Hintergrund, von wo aus er unbemerkt die Leitung der Andachtsstunde übernimmt; der Ton des Werkes wird durch die Forderung bestimmt, daß in keinem Augenblicke eine Betrachtung eingefügt, eine Empfindungssaite angeschlagen werde, die sich nicht in der Seele der Gemeinde unmittelbar und wie von selbst emporheben würde. Gleichsam als äußeres Symbol für dies Verhältnis wird in so gearteten Kirchenstücken oratorischen oder auch nur beschaulichen Charakters von meinen Mitgenossen und mir an wichtigen Punkten des Werkes der Gemeinde selber die Zunge gelöst; sie tritt dann mit passenden Choralstrophen in den Rahmen desselben ein. Um die Einheit des Werkes noch besser wahren zu können und auf gewisse Empfindungsgänge nicht verzichten zu müssen, habe ich in dem vorliegenden Oratorium zu öfteren Malen das Wagnis versucht, diese Gemeindegesänge durch Vor-, Zwischen- und Nachspiele inniger mit dem Ganzen zu verbinden. Durch den Kunstchor als Vorsänger unterstützt, dürfte die Ausführung keine Schwierigkeiten oder unliebsame Störungen verursachen. (Zur Übersicht)
 
2. Die besondere Gestaltung der Evangelisten-Partie
Die Partie, welche sich in einem auf eine Handlung aufgebauten Oratorium als die sprödeste erweist, ist diejenige des Erzählers. Um auch diese den oben aufgestellten Grundsätzen zu nähern, baute ich die ariosen Recitative des Evangelisten auf die melodischen Motive zweier Kirchenlieder: für den ersten Teil des Abendmahlsliedes: „Schmücke dich, o liebe Seele“, für den zweiten Teil des Passionsliedes: „O Haupt voll Blut und Wunden“. Da hierdurch die Gemeinde bei den sonst aus dem Rahmen religiöser Lyrik fallenden epischen Teilen mit ihrem intimsten eigenen Gefühlsausdruck halbbewußt beteiligt ist, gleichsam mitwirkt, kommt sie aus der Gebetstimmung nicht einen Augenblick heraus. Der Evangelist in meinem Werke ist nun ebenso weit davon entfernt, nur ein unbeteiligter Lektor zu sein, - wie er es in den alten Mysterien bis in die Zeit von H.Schütz war - als andererseits durch überempfindsamen Vortrag der Erzählung dem lyrischen Erguß der darauf folgenden Einzel- und Chorgesänge das Beste oft schon vorweg zu nehmen, - wie dies in den Bachschen Passionen meiner Ansicht nach an vielen Stellen unleugbar geschieht. Gelegentliche Umgestaltungen, die hierbei an der Choralmelodie vorgenommen werden, sind nicht anders aufzufassen als etwa eine harmonisch eindringlichere Begleitung des Gemeindegesanges; der Grundgedanke des Chorales bleibt in beiden Fällen unangefochten. (Zur Übersicht)
 
3. Epik und Dramatik bei den anderen Rollen
Die Figuren - Christus, Petrus, Pilatus, das Volk - treten redend und handelnd auf, sie sind einer maßvollen Dramatik also gar nicht zu entkleiden. Ich gab ihnen aber für gewisse Abschnitte der Handlung festgehaltene Motive, deren den einzelnen Momenten angepaßte Wiederkehr mir als das einfachste Mittel erschien, ihnen gleichsam die dramatische Spitze abzurunden. Dies ist eine Entlehnung aus der Balladenform. Habe ich also die Epik des Erzählers auf die Stimmungshöhe der Volkslyrik gehoben, so durchsetzte ich andererseits die allzu aktuelle Natur der dramatischen Figuren mit epischen Elementen. (Zur Übersicht)
 
II. Das Werk
4. Gliederung: Gründonnerstag und Karfreitag

So viel über das Allgemeine; der Leser folge mir nun, womöglich an der Hand des Klavierauszuges oder wenigstens des Textes, in das Werk selber, dessen erzählende Teile mit Ausnahme der Abendmahlsszene dem Evangelium Johannis entnommen sind. Es zerfällt in zwei Teile; der erste umfaßt die Fußwaschung, das Abendmahl und das Hohepriesterliche Gebet, dauert etwa eine Stunde und ist für den Gründonnerstag bestimmt; der zweite enthält die Gefangennahme, die Verhöre und die Kreuzigung, beansprucht etwa anderthalb Stunde und dient einer Karfreitagsfeier. Die beiden Teile können aber auch als ein Ganzes vorgeführt werden. Die Gemeindegesänge werden von der Orgel, die Solo- und Chorsätze von einem Harmonium, Streichorchester und, falls der Chor bei der Orgel aufgestellt wird, zum Teil auch von dieser begleitet. (Zur Übersicht)
 

A) Der erste Teil
5. Die Vorbereitung des Abendmahls: Jesu Liebe - der Menschen Sünde - Buße

Ein Einleitungschor über die Worte: „Lasset uns aufsehn auf Jesum...“. Hebr.12,2. Joh. 20,31. fordert die Gemeinde zur Betrachtung des Passionsstoffes auf. Er ist in der Art eines Mottos, durchaus einstimmig und sehr knapp gehalten. Die harmonische Wendung von dem C-dur auf den G-moll-Dreiklang, die hier im vierten Takt und noch an mehreren Stellen gebraucht wird, kehrt im zweiten teile gleichsam als Leit-Harmonie oft wieder. - Dem nun folgenden Gemeindechoral: „Halt im Gedächtnis Jesum Christ“ ist ein kurzes Orgelspiel vorausgesetzt, welches die Anfangszeile der Melodie „Herr, wie du willst“ imitatorisch verwendet. Als Nachspiel dient die Umkehrung dieser Melodie. - Der Evangelist erzählt dann die Vorbereitung zur Fußwaschung; der Chor schiebt bei Betrachtung der liebevollen Demut Jesu ein kurzes Stück ein: „Siehe, wie Jesus geliebt hatte die Seinen ...“, Joh. 13,1. In den folgenden Wechselreden zwischen Petrus und Jesus sind die ihnen beigegebenen Motive festgehalten: Petrus charakterisiert sich durch die sich überstürzende Natur seiner noch nicht auf Erkenntnis beruhenden Liebe; Jesus durch die leise Wehmut, die den feierlich-priesterlichen Ton seiner Reden durchzieht. Nach den Worten des Evangelisten: „Da sahen sich die jünger untereinander an, und ward ihnen bange, von welchem er redete“ klopft sich die Gemeinde (der Chor) in eignem Schuldbewußtsein an die Brust: „Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz ...“, Psalm 139, 23.24. - Johannes thut die bange Frage: „Herr, wer ist’s?“ und Jesus giebt den eingetauchten Bissen an Judas Ischariot. Dieser entfernt sich, „und es war Nacht“, die Nacht der Sünde. Der Erkenntnis der Sünde folgt Reue und Buße; so fällt der Chor mit Worten aus Psalm 130 und 51 ein. Die Aufgabe war keine leichte, diesen Stoff, den nur ein großes selbständiges Werk erschöpfen könnte, auf den knappen Raum einer Zwischennummer zusammenzupressen, ohne die herrliche Dichtung um ihre Wirkung zu bringen. Ich glaubte sie durch starke aber kurzgefaßte Thematik, nahe aneinander gerückte Kontraste, vor allem aber durch möglichst symmetrischen und durchsichtigen Bau lösen zu sollen. (Zur Übersicht)
 
6. Einkomponierte Gemeindestrophen zum Abendmahlslied „Schmücke dich“
Nun wendet sich die Betrachtung dem Abendmahle zu. Die Gemeinde singt die beiden Strophen: „Schmücke dich, o liebe Seele“ und „Jesu, wahres Brot des Lebens“; eingeleitet wird der Gesang durch ein Vorspiel, in welchem sich die Violoncelle der Orgel anschließen und mit ihr die erste Melodiezeile imitatorisch verarbeiten. Nach der ersten Strophe treten die Bratschen mit Zwischenspiele hinzu; und als Nachspiel, das weiter ausgeführt ist, auch die Geigen und Bässe. Dieses Hereinziehen der Streichinstrumente geschah, um dem Vortrag mehr Ausdruck und Innerlichkeit zu verleihen, als der unbewegliche Orgelton allein geboten hätte. Ist der Musikchor von der Orgel aber durch einen zu weiten Raum getrennt, dann muß eben auf diesen Schmuck verzichtet werden, und die Orgel trägt diese Sätze auf kontrastierenden Klavieren allein vor. Die Einsetzungsworte werden in Form eines Ariosos, mit schlichten Melismen durchsetzt vorgetragen; ihnen folgt, mit Hinzutritt der Streichinstrumente, ein Satz von festerem Gefüge auf die Worte: „Bleibet in mir, und ich in Euch ...“, Joh. 15,4.5. (Zur Übersicht)
 
7. Abendmahl als Eucharistie: Der Dankchor aus der Didaché
Unmittelbar an diese Segensworte Christi schließt sich ein großer Dankchor an. Der Text - er ist der „Lehre der zwölf Apostel“ (Fussnote 1) entnommen - atmet den männlichen, freien und kräftigen Geist der früh-christlichen Kirche. Um den Ton dieser alten Hymne festzuhalten, aber auch um die Fülle des gebotenen Textes in eine einheitliche Form gießen zu können, griff ich auf den einstimmig rezitierenden, unbegleiteten Gesang zurück, wie ihn jene Zeiten kannten, wie er in der katholischen Kirche sich bis auf die heutigen Tage erhalten hat, ohne mich aber darum den musikalischen Motiven des gregorianischen Gesanges anzuschließen.
Das Gebet, von dem wir nur einen Teil bringen konnten, zerfällt in einzelne Abschnitte, die jedesmal in einen litaneiartigen Ruf auslaufen. Um die Strophen von ihren Refrains zu trennen, gab ich erstere einem einstimmigen Männerchore, letztere dem vollen Chor mit Hinzutritt aller Instrumente. Dadurch entging ich auch der Gefahr der Monotonie, wiewohl sich diese Gruppe viermal zu wiederholen hat. Von demselben Gesichtspunkte ausgehend und wohl auch angeregt durch die größere Innigkeit zweier Stellen, ließ ich in der dritten und vierten Strophe auch die Männerstimmen kurze vierstimmige Sätzchen singen, jedoch unbegleitet wie ihre ganze Partie, und beiderseits durch einstimmige Stellen eingeschlossen. An den letzten Refrain schließt sich ein kurzes fugiertes „Amen“ des vollen Chores an. (Zur Übersicht)
 
8. Das große Gebet Jesu für die Seinen
Der Evangelist leitet nun mit den Worten: „Solches redete Jesus, und hob seine Augen auf gen Himmel und sprach“, in das Hohepriesterliche Gebet (Fussnote 2) über. Auch hier ist der Stoff in seiner Ausdehnung und Bedeutsamkeit ein gewaltiger. Professor Spitta hatte den glücklichen Gedanken, die Gebetsworte Jesu dreimal durch kurze Chöre zu unterbrechen; mit war dadurch aber die Aufgabe vorerst nur erschwert worden, da die Texte derselben formal und inhaltlich ganz selbständige Gebilde erforderten. Das Stück schließt mit den beiden Zeilen: „Liebe, dir ergeb‘ ich mich, dein zu bleiben ewiglich“ aus dem Chorale „Liebe, die du mich zum Bilde“. Ich stellte nun zwischen diesen Chorsätzen dadurch eine nicht nur musikalische, sondern auch Stimmungseinheit her, daß ich die Melodie dieser Choralzeilen unter die Singstimmen der drei vorausgehenden Chorsätze als basso ostinato legte. Die musikalische Einheitlichkeit war dadurch, sowie durch die immer wiederkehrende selbe Tonart dieser Zwischensätze, gerettet; der Stimmungswert dieser vorausgreifenden Verwendung des Chorales kann sich aber natürlich nur dem Wissenden erschließen: ein Schicksal, das diese Nummer mit vielen ähnlichen Gebilden bei Bach und Anderen teilt. Die Gebetsworte Jesu habe ich bei erhöhten Momenten der Empfindung auf die alte Intonation jenes Gebetes gegründet, das uns Jesus selbster gelehrt hat, des „Vater unser“, wie sie nicht nur in der alten, sondern auch in der evangelischen Kirche gebräuchlich ist. (Fussnote 3)
Mit den angeführten Choralzeilen im Sopran und einem zweimaligen Amen schließt diese Nummer; die Orgel leitet mit dem Anfangsmotiv der Melodie „An Wasserflüssen Babylon“ in den Schlußchoral des ersten Teiles über, der von der Gemeinde auf den Text: „Mein Lebetage will ich dich aus meinem Sinn nicht lassen“ gesungen wird. (Zur Übersicht)
 

B) Der zweite Teil
9. Eingangschor und besonderer Grundton der Passionsbetrachtung

Gleich mit dem Eingangschore des zweiten Teiles wandelt sich die Grundstimmung des Werkes um. Wie Jesus sich mit seinen Jünger vom Abendmahle erhebt und dem Ölberge zuschreitet, so rafft sich die Gemeinde auf, um ihm dorthin zu folgen. Der Chor singt die Worte: „Stehet auf und lasset uns mit Jesu gehen.“ Die fugierte Form wurde hier aus poetischen Gründen gewählt, um den allmählichen Aufbruch der Gemeinde zu schildern. Ein homophones Seitenthema über die Worte: „auf daß wir erkennen, daß er den Vater liebet und also thut, wie ihm der Vater geboten hat“, tritt zuerst in der Seitentonart, am Schlusse in der Haupttonart auf. In der Mitte des Stückes, in der Durchführung, bringt der Text: „Es kommt der Fürst dieser Welt, und hat nichts an ihm“ neue töne in das Gesamtbild; und so haben wir einen breit ausgeführten Sonatensatz vor uns. Die Gemeinde tritt unmittelbar nach dem Schlußakkord mit der Melodie: „Mach`s mit mir, Gott“ ein und singt die beiden Strophen: „Mir nach, spricht Christus, unser Held“, und „So laßt uns denn dem lieben Herrn mit Leib und Seel` nachgehen“. So öffnet sich, mit sanft ausklingenden Orgeltönen, das Portal zum Schauspiel der Qualen und Schmerzen des Erlösers. Die Gemeinde findet aber, im Besitz der Heilswahrheit, die Kraft und den Mut, die Trauer um das Leiden Christi mit Akzenten des Dankes, der innigen freudigen Gottesliebe, ja des Triumphes zu durchsetzen. Und darin unterscheidet sich diese Passion von allen ihren Vorläufern. Von der Handlung wird gerade nur so viel verwendet, wie als Grundlage für Betrachtung und Gebet erforderlich war. (Fussnote 4) (Zur Übersicht)
 
10. Rezitative und Turba-Chöre
Die nun folgenden Recitative des Evangelisten, auf die Melodie: „O Haupt voll Blut und Wunden“ aufgebaut, sind absichtlich in viel reicherem Maße mit Zwischen tönen, Erweiterungen u.s.w. durchsetzt als diejenigen des ersten Teiles. Nur selten tritt die Melodie ganz unverbrämt in die Erscheinung, und dann meist mit einer bestimmten, leicht herauszufindenden Absicht; so gleich anfangs bei den Worten: „Da nun Jesus wußte alles, das ihm begegnen sollte“, und später sogar im Munde von Pilatus: „Sehet, das ist euer König!“ Jesus hält durch die erste Partie, die Gefangennahme, wieder gewisse Harmonie- und Melodie-Eigentümlichkeiten fest, die mir der Situation zu entsprechen schienen. Die Kriegsknechte rufen ihr zweimaliges „Jesum von Nazareth“ - das zweite Mal um einen halben Ton höher - auf Grundlage von Akkorden, die gegen die vorhergehenden stark kontrastieren. Hier zeigt sich schon ein Kunstmittel an, das in der Folge stets verwendet wird, wo es gilt, auch die Chöre der Juden von dem Übrigen loszulösen und herauszuheben; es ist, als ob ein Riß durchs Bild ginge, so oft die feindlichen Mächte eintreten. (Zur Übersicht)
 
11. Ergebung in Gottes Willen
Ergriffen von den liebeüberströmenden Worten Jesu: „Suchet ihr denn mich, so lasset diese gehen“, singt der Chor über leisen und ruhigen Harmonien: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil ...“; als Mittelsatz tritt zu den Worten: „Darum so die Bösen an mich wollen ...“, Psalm 27,1.2., ein heftiges und rauhes Thema in kurzem Fugato ein. - An die weitere Erzählung vom Knechte Malchus und die Worte Jesu: „Soll ich den Kelch nicht trinken ...“ knüpft der Chor eine Bearbeitung des Chorales: „Was Gott thut, das ist wohlgethan, muß ich den Kelch gleich schmecken ...“ Die Anknüpfung an das Wort „Kelch“ ist nur eine äußerliche; die innerliche beruht auf der Ergebung in Gottes Willen. Mit den ersten Melodieschritten, in ihrer Verkleinerung zu Achtelnoten, durchziehen die Streichinstrumente den ganzen Satz; die drei oberen Singstimmen bringen dazu die Motive der einzelnen Zeilen in Viertel-, der Baß in Halben-Noten. (Zur Übersicht)
 
12. Das einzige Solo-Arioso
Die Erzählung schreitet bis zu den Worten Jesu fort: „Was schlägest du mich?“; hierauf folgt ein Arioso für eine Altstimme. War es schon an sich geraten, die allzudichte Aufeinanderfolge von Chorsätzen einmal zu durchbrechen, so schien mir gerade der Text: „Christus hat uns ein Vorbild gelassen ...“, 1.Petri 2, 21.23, weniger zu lyrischer Ausbreitung geeignet. Die Begleitung - ausnahmsweise nur dem Streichorchester überlassen - drückt in ihren Harmonien das schmerzliche Bild des geschlagenen göttlichen Antlitzes aus. (Zur Übersicht)
 
13. Kreischen und Heulen - kraftvoll und stolz
Pilatus fragt: „Was bringet ihr für Klage wider diesen Menschen“, und die Juden antworten: „Wäre dieser nicht ein Übelthäter...“. Zum ersten Male erscheint das den Volkschören zugesellte Motiv, aus kreischenden und heulenden Tönen zusammengesetzt; ebenso gleich darauf: „Wir dürfen niemand töten.“ Im Verlaufe des Stückes trachtete ich, bei jedem neuen Eintritt dieser Chöre den Sprung in den Tonarten immer zu vergrößern. Da das Orchester stets vorausschlägt, bietet sich der Ausführung keine nennenswerte Schwierigkeit. - Der Sänger der Partie des Christus möge nicht übersehen, daß in den Verhören vor Kaiphas und Pilatus auch kraftvolle und stolze Töne angeschlagen werden; er hüte sich aber vor aufgeregter Leidenschaftlichkeit. Den Worten: „Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme“ fügt das Harmonium zwei Takte schmerzlichen und doch ergebenen Ausdrucks hinzu, die in der Folge wiederkehren und an Bedeutung gewinnen. (Zur Übersicht)
 
14. Die erlösende Antwort
Pilatus thut endlich die große Frage: „Was ist Wahrheit?“; auf schwankenden Harmonien wird mit dem Motiv des folgenden Stückes in dasselbe übergeleitet; wie ein Echo tönt es vielfältig zurück: „Was ist Wahrheit?“ Und nun wird derselbe Gedanke zuerst von Solostimmen, dann vom Chor mit der ängstlichen Frage: „Herr, wohin sollen wir gehen?“ erfaßt. In immer dichterer Verstrickung kanonischer Imitationen werfen sich die Stimmen das Thema zu; die Stimmung wächst bis zu leidenschaftlicher Höhe an, um sofort zu verzweifelter Ratlosigkeit zusammenzusinken. Da ertönt, zuerst von einer Stimme vorgetragen, dann vom Chor aufgenommen, die erlösende Antwort: „Du hast Worte des ewigen Lebens“; und es entwickelt sich über die folgenden Worte: „Wer da bleibet in deiner Rede, der wird die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird ihn frei machen“ ein Wechselgesang zwischen Solo- und Chorstimmen, der zu einem breiten und kräftigen Schluß führt. In dieser Stimmung kann nun die Orgel das Motiv der Frage wieder aufnehmen, denn diese hat ihre Beantwortung im glauben gefunden; und die Gemeinde darf mit den Liedstrophen: „Ach bleib mit deinem Worte ...“ und „ Ach bleib mit deinem Glanze ...“ diesen Abschnitt beschließen. (Zur Übersicht)
 
15. Leidenschaftliche Beteiligung am Kreuzesgeschehen
Die folgenden Partien des Evangeliums kann ich hier übergehen, da das Allgemeine darüber schon gesagt ist. - Der Evangelist singt bei der Stelle: „Da überantwortete er Jesum, daß er gekreuziget würde“ auf dem Wort „gekreuzigt“ eine schmerzerfüllte Tonreihe, die, mit kleiner rhythmischer Umgestaltung, das ganze folgende Stück - eine Bearbeitung des Chorales „Herzliebster Jesu“ - durchzieht. Der zu Grunde gelegte Text: „O große Lieb`, o Lieb` ohn` alle Maßen, die dich gebracht auf diese Marterstraßen! Ich lebte mit der Welt in Lust und Freuden, und du mußt leiden!“ atmet eine so leidenschaftliche Beteiligung der christlichen Gemeinde an den Schreckensbildern der Kreuzigung, daß sich der Ausdruck fast bis zu dramatischer Höhe steigern durfte. (Zur Übersicht)
 
16. Leitmotivik im Harmonium
Nach den Worten des Evangelisten: „Allda kreuzigten sie ihn“, die der früheren Tonfigur unterlegt sind, setzt im Harmonium ein neues Motiv ein, welches mit seinen harmonischen Rückungen und Verschränkungen später als Folie für die letzten Worte Jesu am Kreuz dienen wird. (Fussnote 5) Hier galt es, die furchtbare Szene mehr anzudeuten, durch wortlose Tonsprache mehr zu verhüllen als zu schildern. In stockender und fast flüsternder Weise vollendet dann der Evangelist seinen Satz. - Nach den ersten, Maria und Johannes betreffenden Worten Jesu entwickelt sich eine Bearbeitung des Chorales: „O du Liebe meiner Liebe“. Mit der Verkürzung des Themas umspielen die Bratschen einen freien Satz von vier Solostimmen, während dem Alt-Chor die Melodie zugeteilt ist. (Zur Übersicht)
 
17. Tod und Triumph - eine neue Deutung des Todes Jesu
Das Evangelium wird beschlossen: „Und neigete das Haupt und verschied“. (Fussnote 6) Hier war der Moment gegeben, die durch Christi Tod erlöste Gemeinde aus der menschlichen Trauer zum großen Gesichtspunkt des Triumphes zu erheben, bis zu jenem mystischen Gedanken: „Das Lamm, das erwürget ist, ist würdig zu nehmen Ehre, Preis und Lob“. Unvermittelt durften jedoch diese Töne nicht angeschlagen werden, und so stellte sich der Text: „Weine nicht; siehe es hat überwunden der Löwe, der da ist vom Geschlechte Juda“, beide Grundstimmungen in sich vereinigend, zwischen die Trauer um den Tod Jesu und den Siegeshymnus der erlösten Christenheit. Ich habe es seit meiner frühesten Bekanntschaft mit Bachs Matthäuspassion immer als nicht hingehörend empfunden, daß die Gemeinde nach dem Tode Jesu sich in Einzelindividuen auflöst, und jeder für sich an seinen eigenen physischen Tod denkt, statt seine Gedanken auf die Überwindung des Todes der Menschheit durch Jesu Opfertod zu richten. Bei Professor Spitta fand ich zu meiner Genugthuung denselben Gedankengang vor, und so wagten wir etwas, das in dieser Konsequenz ohne Vorgang ist. Die Zeit wird entscheiden, ob wir damit einen Mißgriff gethan haben; anfängliches Befremden allein könnte uns nicht davon überzeugen.
Diese Nummer hat folgenden Gang: Auf einem einzelnen fremden Tone, der anfangs noch gar keine Tonart zu erkennen giebt, klopft die Bratsche in unregelmäßigen Pulsschlägen wie ein Herz, das im Schmerz still zu stehen droht. Die einzelnen Stimmen des Chores rufen sich - aber thränenüberströmt - die Mahnung zu: „Weine nicht!“ und raffen sich bei den Worten „Siehe, es hat überwunden der Löwe...“ in kurzer Steigerung zweimal zu höchster Kraft empor; dann sinkt der Chor in die Tiefe: „Weine, weine nicht!“ Und nun, nach kurzer Pause, ertönt in glänzenden, aber feierlichen Akkorden die Siegeshymne: „Das Lamm, das erwürget ist...“ Die folgende Amen-Fuge ist von diesen Tönen durchzogen und steigert sich in der Koda bis zu höchster Wucht und Breite. (Fussnote 7)
Unmittelbar daran - um den Überschuß der Helligkeit gegen den Schluß hin wieder abzudämpfen - schließt der Chor, in leisen Harmonien, die Melodie: „O Haupt voll Blut und Wunden“ mit dem Vers: „Du hast mich ja erlöset“, durchsetzt mit Betrachtungen der Solostimmen über den Text: „Daran haben wir erkannt die Liebe, daß er sein Leben für uns gelassen hat, auf daß wir in ihm Frieden haben. In der Welt habt ihr nun Angst; aber seid getrost: er hat die Welt überwunden.“ Die Gemeinde fällt mit dem Vers: „Hilf, daß ich ja nicht wanke“ ein, und nach dem Beschluß: „Gottlob, es ist vollbracht!“ erhebt sie sich, bei ihrem Ausgange noch durch ein ernst-kräftiges Orgelnachspiel begleitet. Es liegt in einer kürzeren und einer längeren Fassung; je nach der Größe der Gemeinde mag die eine oder andere gewählt werden; beherrscht ist das Nachspiel von der ersten Zeile des Schlußchorales; der längeren Fassung ist eine Choralfuge in die Mitte gestellt.
 
Mußte der Komponist schon bei Abfassung dieses Werkes der allzupersönlichen Laune seiner künstlerischen Phantasie Schranken setzen, so hofft er, daß es ihm auch als Berichterstatter gelungen sein wird, den Standpunkt reiner Sachlichkeit keinen Augenblick aus dem Augen zu verlieren. Daß er aber schließlich doch für sein Werk einstehen mußte, wird ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden. (Zur Übersicht)

Heinrich von Herzogenberg

 
Der vollständige Text des Oratoriums
 

 
  1. Gemeint ist die als "Didaché" bekannte frühchristliche Schrift aus dem 2.Jahrhundert, eines der frühesten Zeugnisse über den Gottesdienst der ersten Jahrhunderte. Diese Schrift wurde erst in den 80er-Jahren des 19.Jahrhunderts entdeckt und wirkte elektrisierend: Die Abendmahlsfeier erscheint hier vor allem im Medium dieses großen ("eucharistischen") Dankgebets als Freudenfest, ganz im Gegensatz zur zeitgenössisch üblichen Praxis eines stimmungsmäßig sehr gedämpften, sündenschweren Rituals in der evangelischen Kirche. Friedrich Spitta gehörte zu den Theologen, die sich von dieser Neuentdeckung zu einer Reform des Abendmahles motivieren ließen, und er hat seinem Freund Herzogenberg dann gleich den entscheidenden Text dazu "untergeschoben". Die musikalische Umsetzung ist ein besonderes Glanzlicht dieser Passion. zurück
  2. Das Hohepriesterliche Gebet Jesu in Johannes 17 gehört inhaltlich wesentlich zur Vorbereitung der Passion. Dies ist die einzige Passionsvertonung, welche dieses berücksichtigt. zurück
  3. Über die Verwendung der gregorianischen Vaterunser-Melodie - eine sehr tiefsinnige musikalische Idee Herzogenbergs - gab es im Herbst 1895 einen längeren Briefwechsel zwischen Komponist und Librettist. Letzterer hatte prinzipielle Vorbehalte gegen die Verwendung gregorianischer Elemente. Der Komponist aber setzte sich durch - mit einem sehr eindringlichen musikalischen Ergebnis im Werk. zurück
  4. Spitta verfuhr mit dem Evangelienbericht (Passionsgeschichte nach Johannes, Kapitel 18 und 19) tatsächlich ziemlich frei und kürzte für das Libretto viele Passagen. zurück
  5. Hier ist der Vergleich mit Wagners Leitmotivtechnik durchaus angebracht. Auch harmonisch sind diese Harmoniums-Passagen durchaus wagnerisch. Die mit einkomponierte Dynamik läßt sich auf den heute üblichen Truhenorgeln als Begleitinstrument nicht darstellen. zurück
  6. Auf "ver-schied" singt der Evangelist eine Quint nach oben! - Ein kleiner gestalterischer Kunstgriff, der die mit diesem Tod eröffnete neue Dimension schon anzeigt. zurück
  7. Diese Abfolge der Chöre erinnert an den Schluß des Messias von Händel, überbietet jenen aber noch an "Wucht". zurück
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